Krank und nicht versichert: Immer mehr Menschen in Deutschland ohne Gesundheitsversorgung – wie behandeln, wer zahlt?

Christian Beneker

Interessenkonflikte

3. Juli 2024

Fehlender Krankenversicherungs-Schutz kann viele treffen: Menschen aus Drittstaaten ohne Aufenthaltstitel, Menschen, die sich ins Kirchenasyl geflüchtet haben, Menschen ohne Papiere, privat Krankenversicherte, die im Alter die steigenden Beiträge nicht mehr zahlen können oder ausländische Studierende, die in der Corona-Zeit wegen der geschlossenen Grenzen das Land nicht verlassen durften und deren Auslandskrankenversicherung nun abgelaufen ist, oder Tagelöhner aus dem EU-Ausland mit schlechten Werk- oder Honorarverträgen hierzulande oder, oder, oder…

Sie kommen alle irgendwie über die Runden, „bis eine Krankheit oder eine Schwangerschaft dazwischenkommt“, sagt Carola Wlodarski, Projektkoordinatorin des Projekts anonymer Krankenschein e.V. Thüringen (AKST) mit Sitz in Jena. Dann brauchen die Betroffenen medizinische Versorgung – und haben ein Problem: Sie sind nicht krankenversichert.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung (BACK) fordert für sie alle eine bundeseinheitliche Regelung.

Deutschland hat sich verpflichtet, der gesamten Bevölkerung medizinische Versorgung zu gewährleisten

Denn die „Allgemeinen Erläuterungen zum Recht auf Gesundheit“ des UN-Komitees für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verlangen von den unterzeichnenden Staaten, dass sie eine nationale Strategie und einen Aktionsplan verabschieden, um der gesamten Bevölkerung Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, heißt es bei der BACK. Und Deutschland hat unterschrieben.

Mit der Unterzeichnung des UN-Sozialpakts habe sich Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, einen diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle Menschen im Staatsgebiet sicherzustellen. „Dieser Pflicht wird die Bundesregierung derzeit nicht ausreichend gerecht“, so die BACK.

Weil eine bundesgesetzliche Regelung fehlt, halten auf Länderebene Behörden oder Vereine in 10 Bundesländern sogenannte Clearingstellen und den anonymen Krankenschein (aks) bereit. Schließlich schlägt das Problem in den Kommunen auf. Hier leben die Menschen auf der Straße und/oder unter irregulären Arbeitsverhältnissen. Bei den Clearingstellen können sie sich über den Zugang zum Gesundheitssystem beraten lassen. Solange keine Krankenversicherung vorliegt, können etwa Menschen ohne Papiere einen aks erhalten, um sich kurzfristig behandeln zu lassen.

In Thüringen zum Beispiel ist die Krankenscheinausgabe über einen Trägerverein organisiert, der mit 40 niedergelassenen Ärzten zusammenarbeitet. Die Bedürftigen erhalten von ihnen einen aks und können nun zu jedem Arzt gehen. Die Ärzte rechnen den einfachen GOÄ-Satz mit der Kommune oder dem Land ab.

Allerdings werden anonyme Krankenscheine nur von relativ wenigen Menschen in Anspruch genommen. In Köln zum Beispiel zählte man von Juli 2023 bis zum April 2024 gerade mal 123 anonyme Krankenscheine. In Thüringen waren es nach Auskunft Wlodarskis im Jahr 2023 nur 200 Menschen mit aks für insgesamt 350 Behandlungsanlässe. In Thüringen übernimmt das Gesundheitsministerium pro Patient 500 Euro, bei Bedarf, etwa wegen eines Krankenhausaufenthaltes, auch mehr.

Geschätzt bis zu 1,5 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung?

Offenbar sind aber Zehntausende betroffen. „Es gibt kaum verlässliche Daten über Menschen ohne Krankenversicherung“, erläutert Janina Gach, Referentin advocacy bei Ärzte der Welt. Beim letzten Mikrozensus waren es deutschlandweit rund 60.000 Menschen. Damit sind aber die Wohnungslosen nicht einbegriffen, weil ja die Mikrozensus-Befragungen wohnortorientiert stattfinden.

 
Es gibt kaum verlässliche Daten über Menschen ohne Krankenversicherung. Janina Gach
 

„80% bis 90% unserer Patienten haben keinen gesicherten Wohnraum, 35% sind ohne Obdach. Wir schätzen die Menge Menschen ohne Krankenversicherungsschutz deshalb auf mehrere 100.000 bis zu 1,5 Millionen. Allein in Thüringen kommen die Schätzungen auf 15 bis 20.000 Menschen. Dies sind aber sehr unsichere Zahlen“, so Gach.

Nichtsdestotrotz: Der Bedarf ist wahrscheinlich enorm. Für Wlodarski ist die Aufgabe ihres Thüringers Vereins denn auch nicht, jene große Versorgungslücke zu füllen. „Wir haben schon nicht ausreichend Geld für unsere 200 Patienten“, sagt Wlodarski. „Wir sehen unsere Aufgabe darum als eine politische – darin, immer wieder auf den Missstand aufmerksam zu machen und der Politik Vorschläge zu unterbreiten“, sagt sie.

 
Wir sehen unsere Aufgabe darum als eine politische – darin, immer wieder auf den Missstand aufmerksam zu machen und der Politik Vorschläge zu unterbreiten. Carola Wlodarski
 

Das Aufenthaltsgesetz ändern

So fordern Gach und Wlodarski, das Aufenthaltsgesetz zu ändern. Denn besonders problematisch ist für Kranke ohne Versicherungsschutz und Papiere, also für illegal im Land lebenden Patienten, der §°87 „AufenthaltG“. Er verpflichtet sämtliche öffentliche Stellen dazu, Menschen ohne Papiere den Ausländerbehörden zu melden. So kann es vorkommen, dass Personen, die ohne Aufenthaltstitel zum Sozialamt gehen, um die ihnen zustehenden Leistungen der Gesundheitsversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Anspruch zu nehmen, stehenden Fußes von der Polizei abgeschoben werden. „Deshalb trauen sich papierlose Menschen nicht aufs Sozialamt“, sagt Gach.

Ausgenommen von der Regel sind Schulen und Kitas. Nun fordert die BACK, die Übermittlungspflicht abzuschaffen. Zudem fordert die BACK unter anderem, die Trennung von GKV und PKV abzuschaffen oder den Mindestbeitragssatz zur freiwilligen, gesetzlichen Krankenversicherung für Arme zu senken.

Aber die Mühlen der Gesetzgebung mahlen langsam. „Im Koalitionsvertrag der Ampel wurde zwar festgehalten, dass man sich mit dem Problem befassen will“, sagt Wlodarski, „aber bisher ist nichts passiert.“

 

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