Land der Zwillinge: Zu viele unerwünschte Mehrlingsschwangerschaften nach In-vitro-Fertilisation – was die Politik tun müsste

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

3. November 2021

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung ... so beginnen Märchen, und stets haben sie ein Happy End. Tatsächlich klappt es bei jedem 6. Paar auf natürlichem Weg nicht, aber auch heutzutage lässt sich ungewollte Kinderlosigkeit vielfach abwenden – dank Methoden wie der In-vitro-Fertilisation.

 
In Deutschland münden rund 20% der künstlichen Befruchtungen in Mehrlingsschwangerschaften ... Doch ist das nicht der Reproduktionsmedizin an sich anzulasten, sondern einem Versagen der Politik. Dr. Ute Czeromin
 

Immer noch zu häufig allerdings bekommen die Eltern dann des Guten zu viel, nämlich gleich 2 oder 3 Babys, wie das jetzt publizierte Jahrbuch 2020 des Deutschen IVF-Registers D·I·R meldet [1].

„In Deutschland münden rund 20% der künstlichen Befruchtungen in Mehrlingsschwangerschaften, mit abträglichen Folgen für Mütter und Kinder. Doch ist das nicht der Reproduktionsmedizin an sich anzulasten, sondern einem Versagen der Politik“, stellt Dr. Ute Czeromin im Gespräch mit Medscape klar.

Die Ärztin mit Kinderwunsch-Praxis in Gelsenkirchen und D·I·R-Vorstandsvorsitzende erläutert: „Dass es durchaus besser geht, machen Schweden und die Niederlande vor. Dort liegt die Mehrlingsrate unter 5%, und zwar deshalb, weil den Frauen meist nur 1 Embryo übertragen wird.“

Zwillinge – normalerweise die große Ausnahme

Warum macht man das in Deutschland dann nicht auch so? „Wir streben den Single-Embryo-Transfer selbstverständlich ebenfalls an, denn nicht von ungefähr hat die Natur die Menschen als Einlinge geplant. Regulär machen Zwillinge nur 1% der Geburten aus“, sagt Czeromin. Die Bilanz für 2019 weist jedoch etwas mehr als 15.300 Einlings- und rund 3.060 Mehrlingsgeburten aus.

Das Bemühen, diesen Anteil deutlich zu verringern, sei bisher letztlich am Geld gescheitert, nämlich daran, dass die Paare die Behandlung zum großen Teil selbst zahlen müssen, erläutert Czeromin. Die gesetzlichen Krankenkassen stellen strenge Bedingungen: Sie übernehmen bloß die Hälfte der Kosten, und das auch nur für eine begrenzte Zahl von Versuchen. Zu den weiteren Vorschriften gehören der Trauschein und ein Altersrahmen: für die Frau 25 bis 40, für den Mann höchstens 50 Jahre.

Die künftigen Eltern müssen tief in die Tasche greifen

Konkret heißt das: Benötigen die künftigen Eltern etwa wegen schlechter Spermienqualität eine Insemination, also eine Übertragung der Samenzellen direkt in die Gebärmutter, müssen sie bis zu 200 Euro aus eigener Tasche beisteuern. Auf rund 1.500 Euro beziffert die Stiftung Warentest den Eigenanteil für eine In-vitro-Fertilisation (IVF).

Dafür werden dem Ovar Eizellen entnommen, meist nach Hormontherapie, mit Sperma vermischt und in den Uterus rückübertragen. Mit ungefähr 1.800 Euro noch teurer ist für die künftigen Eltern die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), das Einbringen der Samenzelle per Kanüle direkt in die Eizelle. Für das Einfrieren von Ei- oder Samenzellen werden überhaupt keine Zuschüsse gewährt.

Privatversicherungen erstatten zwar sämtliche Kosten, sind großzügig bei Alter und Zahl der Versuche – allerdings nur dann, wenn das Mitglied und nicht der anderweitig versicherte Partner die Kinderlosigkeit verursacht. Insofern erstaunt es nicht, dass sich die IVF-Rate halbiert hat, als diese Regelungen nach der Gesundheitsreform 2004 in Kraft traten.

Finanzieller Druck treibt das Paar ins Risiko

Wer also nicht reich ist, erwägt verständlicherweise eher den Transfer von 2 Embryonen, weil dann fast die Hälfte der Frauen unter 35 Jahren schwanger wird gegenüber 40% bei nur 1 Embryo. „Es wächst eben nicht jeder Keim“, stellt Czeromin fest. „Hier in Gelsenkirchen beträgt die Arbeitslosenquote 15%. Die Menschen haben wenig Geld, das merke ich in meiner Praxis deutlich.“ Die höhere Chance beim Double Embryo Transfer fordert jedoch den Preis, dass dann bei jeder 3. der jüngeren Patientinnen Mehrlinge heranwachsen.

Vielen künftigen Eltern sei zunächst gar nicht klar, worauf sie sich einlassen, berichtet die Ärztin. „Was uns Reproduktionsmediziner umtreibt, sind besonders Frühgeburten. Damit enden 60% der Zwillings- und nahezu alle Drillingsschwangerschaften – im Vergleich zu 10% bei Einlingen.“

2 bis 3 Wochen vor dem errechneten Termin seien nicht so gravierend, sehr frühe Frühchen jedoch ziehen eine Kette enormer Probleme nach sich, etwa wegen der noch unausgereiften Lungen und Augen oder der Gefahr von Hirnblutungen. „Keine Frage, die Neonatologie hat enorme Fortschritte gemacht. Und trotzdem altern Paare mit solchen 600-Gramm-Würmchen innerhalb weniger Monate um 10 Jahre“, schildert Czeromin ihre Erfahrungen. „Und selbst wenn das Schlimmste überstanden ist, geht ja alles im Doppelpack weiter: Mit 2 Kindern zu Ärzten, zur Ergotherapeutin und Logopädin.“

Schwanger mit Mehrlingen – eine Herausforderung

Auch um der Frauen Willen sind Mehrlinge unerwünscht: Durch Komplikationen wie Bluthochdruck oder Gestationsdiabetes verläuft die Schwangerschaft wesentlich schwieriger, besonders bei Älteren, so dass sie teilweise Wochen in der Klinik verbringen müssen.

„Eine wichtige Leitschnur ist das Konzept der ,idealen Patientinnen‘: Sie können sich die Übertragung von nur 1 Embryo wirklich leisten“, so Czeromin. Es handelt sich um Frauen jünger als 35, mit Eizellen, die so lebenskräftig sind, dass sich mindesten 4 Vorkernstadien entwickeln. 2 Embryonen sind gerade für sie wenig sinnvoll, denn wie das Jahrbuch in einem Schwerpunktbeitrag unter dem Motto „Weniger ist mehr“ belegt, steigt bei ihnen die Geburtenrate im Vergleich zum Einzeltransfer kaum, wohl aber die Mehrlingsrate. Bei Frauen mit schlechter Prognose dagegen kann man nach Czeromins Worten 2 Embryonen eher in Betracht ziehen.

Aufklärung wird großgeschrieben

„All das halte ich den Paaren in den Beratungsgesprächen eindringlich vor Augen“, berichtet die Ärztin. Im Jahrbuch wird gründliche Aufklärung ebenfalls als Möglichkeit zur Lösung des Problems hervorgehoben, weshalb in Zukunft darauf verstärkt geachtet werden soll. Ein wichtiger Schritt ist bereits getan: Die Verfasser haben erstmals eine Kurzversion für die Öffentlichkeit, speziell für Paare erstellt.
 

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