Joachim Löw, einer seiner Vorgänger, tat es regelmäßig. Wenn die Nationalspieler auf Länderspielreisen morgens schliefen oder tagsüber mal Freizeit hatten, schnappte er sich seine Laufschuhe und ging eine Runde joggen. Der ehemalige Bundestrainer tat dies fast täglich, um sich fit zu halten, aber vor allem auch, um seine Gedanken zu sammeln und etwas abzuschalten. Bei Julian Nagelsmann, der seit 22. September 2023 der zwölfte Bundestrainer in der Geschichte des deutschen Fußballs ist, scheint dies ebenfalls ein Ritual zu sein.
Nachdem er Samstagmorgen in Herzogenaurach, wo die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr EM-Quartier bei Adidas bezogen hat, bereits joggen war, lief er auch am Sonntag in der Früh am Ortsrand ein paar Kilometer – zusammen mit Benjamin Glück, seinem Assistenten, und Teamarzt Dr. Jochen Hahne.
Gut möglich, dass sich das Trio während der Laufrunde über das Testspiel ausgetauscht hat, das am Montag bevorsteht. Da trifft die deutsche Auswahl in Nürnberg auf die Ukraine (20.45 Uhr, im Sport-Ticker der WELT). Aber auch ein anderes Thema dürfte Gesprächsstoff gewesen sein – die tags zuvor aufgeflammte Debatte um Umfragewerte zu Migration und Vielfalt in der DFB-Auswahl.
„Ein Wahnsinn. Ich war schon schockiert“, sagt Nagelsmann
Als „Quatsch“ und „rassistisch“ hatte Joshua Kimmich am Samstag jenes Ergebnis einer WDR-Umfrage bezeichnet, wonach sich jeder Fünfte wünsche, dass wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft spielen würden. Als der Bundestrainer am Sonntagnachmittag auf die Äußerungen von Kimmich und die Umfrage angesprochen wurde, hielt er kurz inne – und antwortete dann fast zweieinhalb Minuten.
Zu Beginn seiner Ausführungen lobte Nagelsmann Kimmich, der „herausragend gut und mit einem reflektierten Statement“ darauf geantwortet habe. „Ich sehe es genauso“, fuhr Nagelsmann fort: „Wobei ich es auch einen Wahnsinn finde, dass wir im Öffentlich-Rechtlichen so eine Frage stellen. Ich war schon schockiert, als ich über die Umfrage informiert worden bin – und darüber, dass solche Fragen gestellt werden und es Menschen gibt, die darauf antworten.“
Nagelsmann sagte, dass er es – wie Kimmich – ebenfalls rassistisch findet. „Ich habe schon das Gefühl, dass wir langsam mal aufwachen müssen. Es gibt unzählige Menschen in Europa, die flüchten müssen – und auch schon in den vergangenen Jahren flüchten mussten, aufgrund von Krieg, aufgrund von wirtschaftlichen Faktoren oder aufgrund von Umweltkatastrophen, was auch immer“, sagte Nagelsmann und sprach von „Menschen, die ein sicheres Land suchen und aufgenommen werden wollen. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht, das machen wir aktuell. Uns in Deutschland geht es ja noch sehr, sehr gut. Wenn wir so etwas äußern, finde ich es einen Wahnsinn, wie verblendet wir da sind.“
Der 36 Jahre alte Coach bezog sich noch einmal auf Kimmich. „Josh hat es gesagt – und ich habe es auch schon oft betont: Eine Fußball-Mannschaft kann ein großes Vorbild sein, wie man verschiedene Kulturen, religiöse Hintergrunde und auch Hautfarben in einer Gruppe vereinen kann, gemeinschaftlich ein großes Ziel zu erreichen. Ich finde es skurril: Wir fahren alle in den Urlaub, um andere Kulturen kennenzulernen. Dann kommen andere Kulturen zu uns, und wir beschweren uns darüber. Dann kann ich nicht in den Urlaub fahren und muss hier bleiben. Wie Josh will ich auch keinen Spieler vermissen, den wir nominiert haben und auch keinen, den wir nicht nominiert haben.“
Bevor Nagelsmann noch einmal auf sportliche Dinge einging, sagte er: „Wir spielen eine EM für jeden im Land. Ich hoffe, nie wieder etwas von so eine Scheißumfrage lesen zu müssen.“
Gegner Ukraine und die Sicherheitsvorkehrungen
Klare Worte des Bundestrainers – einen Tag vor dem Spiel gegen die Ukraine, die seit Februar 2022 dem russischen Angriffskrieg ausgesetzt ist. Trotz der sportlich sehr schwierigen Bedingungen in Zeiten des Krieges war es der Ukraine gelungen, sich für die EM qualifizieren zu können. Die Auswahl hatte sich in den EM-Play-offs gegen Bosnien-Herzegowinan und Island durchgesetzt. In der EM-Vorrundengruppe E trifft die Ukraine nun auf Belgien, Rumänien und die Slowakei.
„Leider ist der Fußball in unserem Land nicht mehr das Wichtigste – so, wie das einmal war. Wir denken jeden Tag an unsere Verteidiger. Dennoch ist es schön für unser Land, dass wir bei der EM dabei sind“, sagte Sergiy Rebrow, der Nationaltrainer der Ukraine am Sonntag. Auch Mittelfeldspieler Taras Stepanenko freut sich auf die EM, berichtete am Tag vor dem Testspiel aber, wie schwierig es sei, jeden Morgen Nachrichten von zerstörten Städten oder getöteten Menschen zu lesen.
Während des EM-Turniers wird die Nationalmannschaft der Ukraine, gegen die die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) bei bislang fünf Siegen und vier Remis noch ungeschlagen ist, ihr Quartier in Hessen aufschlagen. Der Verband hat sich für ein Hotel in Taunusstein entschieden. Der Begleittross des EM-Teilnehmers soll dagegen in einem Hotel in Wiesbaden unterkommen, wie aus dem Quartierkatalog der Uefa hervorgeht.
Zum Schutz der ukrainischen Nationalmannschaft werden die deutschen Sicherheitsbehörden noch umfangreichere Maßnahmen als für die Teams der 23 anderen Teilnehmer ergreifen. Das hatte Nancy Faeser, die Bundesinnenministerin, Ende April gegenüber der „Rheinischen Post“ bestätigt. Außerdem, sagte die SPD-Politikerin weiter, würden deutsche Beamte anschließend bei den Olympischen Spielen in Paris für zusätzlich verbesserten Schutz des Deutschen Hauses sorgen. Bei der EM würden sämtliche eingesetzten Sicherheitskräfte „alle Teams, Fans und Gäste schützen – und besonders für das ukrainische Team gilt natürlich: Wir tun alles für dessen Sicherheit in Deutschland, hier herrschen noch höhere Sicherheitsvorkehrungen“, sagte Faeser.
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine nach Russlands Überfall auf den Nachbarn gelten die Osteuropäer während ihres EM-Aufenthaltes als außerordentlich gefährdet.
Derzeit leben rund 1,1 Millionen Menschen in Deutschland, die vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine geflohen sind. „So wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer werden sie mit ihrem Nationalteam mitfiebern“, sagte Faeser. Während der EM, die vom 14. Juni bis 14. Juli läuft, soll es an allen deutschen Grenzen Kontrollen geben. Das ist laut Faeser notwendig, um das internationale Großereignis bestmöglich zu schützen. Auch zur WM 2006 hatte Deutschland zeitweilige Grenzkontrollen eingeführt.
Was das sportliche Duell am Montag betrifft, wird Torhüter Manuel Neuer sein Comeback nach 18 Monaten in der deutschen Auswahl feiern. Der Bayern-Schlussmann hatte sein 117. und bislang letztes Spiel im DFB-Tor am 1. Dezember 2022 beim 4:2 gegen Costa Rica in Katar bestritten.