Der Pissbahnhof-Vergleich hat Ludwigshafen dann doch geschmerzt. An öde Witze (Was ist das Schönste an Ludwigshafen? Die Brücke nach Mannheim!) und Schmähungen des Stadtbilds („Betonversessene Planierraupen-Architektur“) ist man ja gewöhnt in der Heimstatt des weltgrößten Chemiekonzerns BASF. Dass der SWR seinen Odenthal-Tatort lieber in Baden-Baden dreht, obwohl er in Ludwigshafen spielt, wird achselzuckend hingenommen.
Aber der Verriss im „Spiegel“, dessen Reporter nach Helmut Kohls Tod im Sommer 2017 ein knappes Stündchen durch die City geirrt war, empörte dann doch. Eine verwahrloste Geisterstadt sei Ludwigshafen, geeignet als Kulisse für osteuropäische Agentenfilme aus den 60ern: „Verglichen mit dem Zentrum von Ludwigshafen wirkte jeder Pissbahnhof in Vorpommern, jede Autobahntankstelle in Sachsen-Anhalt wie ein blühender Zukunftsort.“
Als der Geburtsort von Helmut Kohl und Ernst Bloch, von André Schürrle und Daniela Katzenberger kurz darauf auch noch zur „hässlichsten Stadt Deutschlands“ gekürt wurde, wenn auch nur von der TV-Satiresendung „Extra 3“, hielt das Kulturamt die Zeit gekommen für eine gepfefferte Replik. Man aktivierte den Performance-Künstler Helmut van der Buchholz. Der leitet seither Rundgänge und Radtouren – zu den schlimmsten, unansehnlichsten, peinlichsten Ecken der Stadt. Ihr Titel: „Germany’s Ugliest City Tours“.
Die Selbstironie kommt an, das Interesse ist groß, sogar ein Audio-Guide zum Alleinmarschieren wurde aufgelegt. LU – Einheimische nennen ihre Stadt nach deren Nummernschild-Kürzel – profitiere vom Faszinosum Katastrophentourismus, sagt Tourenführer van der Buchholz, gelernter Bildhauer, diplomierter Architekt und ein Satiriker vor dem Herrn. „Man muss nur schreckliche Dinge präsentieren, dann kommen die Leute gerannt.“
Genüsslich zeigt der 62-Jährige daher zwei Stunden lang Leerstand und Vernachlässigung, Bausünden und gescheiterte Visionen, besucht verwaiste Plätze, labyrinthische Hochstraßenzufahrten, beklemmende Unterführungen und einstmals stolze Wahrzeichen der Stadt, die heute vor dem Abriss stehen.
Würdiger Auftakt zu einer Tour der Scheußlichkeiten
Los geht’s an einem eher unspektakulär erscheinenden Ort, dem Danziger Platz. Ein Sandsteinbrunnen mit gewaltiger Schale, daneben eine Rutschröhre auf einem Spielplatz, der Rasen gemäht, die Bäume ringsum saftig grün: Wo lauert da bitte schön die versprochene Katastrophe? Die Müllhaufen, die vor zwei Sommern angeblich eine Rattenplage mit Dutzenden seelenruhig umherspazierenden Tieren beschert haben sollen, sind verschwunden.
Von der Schaukel juchzt es, ein schlanker Mann und sein Partner führen Händchen haltend einen Pudel Gassi: Der Platz erscheint fast idyllisch, bis man den Brunnen genauer in Augenschein nimmt. Das monströse Steinmetzerzeugnis, in dem schon lange nichts mehr plätschert, stammt aus dem Jahr 1940 – und die Wappenreliefs im mächtigen Sockel sollen die „Befreiung der Ostprovinzen“ feiern. Eine irreparabel verkalkte Heim-ins-Reich-Huldigung in Fußnähe zum einstigen IG-Farben-Fabrikgelände der BASF: Das ist in der Tat ein würdiger Auftakt für eine Scheußlichkeiten-Tour.
IG Farben ist auch das passende Stichwort für den Carl-Wurster-Platz ein paar Hundert Meter entfernt. Jenseits der maroden Hochstraße Nord, die gegen herabfallende Betonbrocken rote Fangnetze trägt wie Windeln und in ein paar Jahren abgerissen wird, wartet ein weiterer versiegter Brunnen, ein scheußliches Röhrenkonstrukt, das Fabrikschornsteine symbolisieren soll. Betonstufen bröseln, Unkraut wuchert, im Hintergrund ragt der todgeweihte 72-Meter-Turm des baufälligen Rathaus-Centers empor. Die Anwohner klagen über Dealer und Trinker, Schlägereien, Lärm und Dreck.
Dabei war der Platz geplant als würdiges Entrée zum Hemshof, dem Multi-Kulti-Altstadtviertel. Interessant ist hier aber vor allem der Namensgeber Carl Wurster: Der 1900 geborene Chemiker war im Dritten Reich nicht nur NSDAP-Mitglied, Wehrwirtschaftsführer und Vorstand der IG Farben, die bei Auschwitz ein Werk betrieben. Er gehörte auch dem Verwaltungsrat der Tochterfirma Degesch an, der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung. Die produzierte das Gift Zyklon B für die Gaskammern.
Wurster behauptete als Angeklagter der Nürnberger Prozesse, er habe vom Zweck der vielen Tonnen Giftgas nichts gewusst. Die Militärrichter sprachen ihn frei, der gebürtige Stuttgarter kehrte zur BASF zurück und wurde dort Vorstandschef.
Später machte ihn LU sogar zu einem von nur 16 Ehrenbürgern (allesamt männlich). Mit Blick auf den schäbigen Zustand des Platzes muss Helmut van der Buchholz schmunzeln: Dass ausgerechnet ein so heruntergekommener Ort heute Wursters Namen trage, „das kann kritische Geister auf die Idee bringen zu sagen: geschieht ihm ganz recht“.
BASF machte Ludwigshafen einst reich
Grundsätzlich muss man in Ludwigshafen stets die BASF mitdenken, anders ist die Stadt nicht zu verstehen. „Manche Städte sind rings um einen Platz oder ein Schloss gebaut. Ludwigshafen wählte eine Fabrik als seine Kirche. Sie ist überall“, schrieb der französische Autor Benoît Gausseron nach einem Besuch am Rhein.
Der 1865 gegründete Chemiekonzern machte Ludwigshafen mit seinen früher üppig gezahlten Steuern reich und übermütig. Doch seit die BASF immer weniger an das Finanzamt überweist und vor Ort immer mehr Arbeitsplätze abbaut, steht die Stadt vor den Trümmern ihrer Ambition.
In den Wirtschaftswunder-Jahren glaubten die sozialdemokratischen Stadtväter allen Ernstes, Ludwigshafen werde sich aufschwingen zur „Idealstadt der Zukunft“, zu einer autogerechten Metropole der Geschwindigkeit und des Erfolgs. Der „modernste Hauptbahnhof Europas“ wurde gebaut, aber nie von der Bevölkerung angenommen, weshalb heute dort kein Fernverkehrszug mehr hält.
Um die City legten die Planer einen Gürtel aus Stelzen-Straßen, monströse Schnelltrassen auf Betonsäulen, die das Zentrum vom Rest der Stadt abschneiden. Ende der 70er-Jahre zog man das gigantische Rathaus hoch, mit Einkaufszentrum, Turm und Wasserbecken, in denen die Bürger sonntags Bötchen kreisen ließen.
Heute sind die Becken vermüllt, das baufällige Center steht leer und wird abgerissen. Die Sanierung konnte die überschuldete Stadt nicht bezahlen. Von einem weiteren geplatzten Traum, der U-Bahn, kann Tourführer van der Buchholz nur noch verrammelte Eingangstore in einer klaustrophobischen Unterführung zeigen. Die letzte Strecke wurde mangels Fahrgästen 2008 dichtgemacht. Gerade werden die Tunnel zurückgebaut, hin und wieder brennt es im Untergrund, wenn Unbekannte einen Bagger anzünden.
Keine Fassade wie in Heidelberg oder Tübingen
Bei den Teilnehmern beobachtet Helmut van der Buchholz nach zwei Stunden Rundgang oft eine gewisse Freude am Untergang „und daran, selbst noch nicht so tief gesunken zu sein wie das, was man hier erlebt“. Wahr ist aber auch: Dem Bann dieser kantigen Stadt, die einst so hoch hinaus wollte und so grandios scheiterte, kann man sich schwer entziehen. Und natürlich hat auch Ludwigshafen schöne Ecken, die Parkinsel am Rhein mit ihrer Hannelore-Kohl-Promenade zum Beispiel.
Mancher hält auch die 2010 eingeweihte Rhein-Galerie auf dem Gelände des alten Zollhofhafens für gelungen. Nur habe die Shopping-Mall eben leider der benachbarten Fußgängerzone endgültig die Luft abgedrückt, sagt Tourführer van der Buchholz. Dort sind heute fast nur noch Wettbüros, Billigläden und Dönerbuden zu finden und viele blinde Schaufenster.
„Fabrikschmutz, den man gezwungen hatte, Stadt zu werden“: Diese oft zitierte Wendung hatte der Philosoph Ernst Bloch 1928 in einem Essay für seinen Geburtsort geprägt. In Ludwigshafen, das ein eigenes Ernst-Bloch-Forschungszentrum beherbergt, ist man fest davon überzeugt: Der dem Marxismus zugeneigte Feingeist wollte seine Heimat damit mitnichten beleidigen, sondern ihr im Gegenteil ein Kompliment aussprechen – als Industrie- und Arbeitermetropole, die zwar roh und derb daherkommen mag, aber authentisch ist, ungeschönt und echt; ein ehrlicher Ort.
Helmut van der Buchholz sieht das ähnlich: Bei Touristen beliebte Städte wie Heidelberg oder Tübingen präsentierten sich mit Hochglanzfassaden, hinter denen es hier und da gewaltig bröckle. „Ludwigshafen leistet sich den Stolz, auf solch eine Fassade zu verzichten.“
Tipps und Informationen:
Anreise: Mit der Regionalbahn bis Ludwigshafen Hauptbahnhof oder Ludwigshafen Mitte. Fernzüge über Mannheim, weiter mit der S-Bahn nach LU-Mitte. Vor Ort gibt es auch Next-Bike-Leihräder.
Geführte Touren: Am besten erkundet man Ludwigshafen mit dem Audiowalk „Germany’s Ugliest City Tour“, ein digitaler Spaziergang mit Hörspielkünstler Oliver Augst, Schlagzeuger Erwin Ditzner und Stadtführer Helmut van der Buchholz; über ludwigshafen.de/lebenswert/kulturbuero/germanys-ugliest-city-tours kann man sich die App kostenlos herunterladen. Eine privat geführte Tour für Gruppen oder Familien kostet 250 Euro (Buchung über sylvie-isabel.ehret@ludwigshafen.de).
Weitere Infos: ludwigshafen.de/lebenswert/stadt-am-rhein/gaeste/tourist-information
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Januar 2023 veröffentlicht.