Es ist ihr höllisch lautes Lieblingsplätzchen. Unter den Betonpfeilern einer Autobahnbrücke der A40 bei Duisburg döst gern eine Kuhherde, sie findet dort Schutz vor Sonne, Regen und Wind. Vom 65-Dezibel-Rauschen der täglich 90.000 Fahrzeuge über ihren Köpfen lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen, sie kennt es auch nicht anders, denn der Bauer hat seine Weiden an der Autobahn. Die Reisenden aber, die über die A40 im Ruhrgebiet rasen, ahnen nichts vom Naturidyll unter der Brücke.
Es ist ein typisches Niemandsland an der deutschen Autobahn, eine No-go-Area, abgesperrt durch Barrieren wie Leitplanken, Gitter, Drahtzäune, Erdwälle und Beton. Überall hat sich ein Parallelkosmos entwickelt, nicht nur für Weidevieh.
Auch Rehe, Füchse und Karnickel schätzen die menschenleeren Autobahnbiotope entlang der Seitenstreifen als Zufluchtsorte trotz Lärm, Dreck und Abgasen. 35.000 Hektar einsame Grünfläche an den Autobahnen sind das genau genommen, hin und wieder kontrolliert ein Mitarbeiter der Autobahnmeisterei das Straßenbegleitgrün. Alle anderen rasen vorbei.
Eine Welt zwischen Asphalt und Natur
Wer auf einer Autobahn unterwegs ist, wie gerade Millionen Osterurlauber, der hat es normalerweise eilig. Das Auto bleibt für Deutschland-Urlauber das meistgenutzte Verkehrsmittel zum Erreichen des Urlaubsziels, 2021 nutzten es 78,1 Prozent laut einer aktuellen Umfrage des Marktdatenunternehmens Statista.
Deutschland hat 13.181 Kilometer Autobahnen, wird jede Fahrtrichtung einzeln gezählt, sind es gut 26.000 Kilometer Asphalt und Beton, die kanal- und schneisenartig die Landschaften zerschneiden. Mit gut 200 Autobahnkreuzen und Autobahndreiecken, etwa 18.000 Brücken, 1500 Parkplätzen. Und gut 450 Autobahnraststätten, mehr als eine halbe Milliarde Reisende machen normalerweise jedes Jahr an ihnen halt. Deren durchschnittliche Verweildauer beträgt knapp 15 Minuten; dann geht es so schnell wie möglich weiter.
Nur einer verweilt gern länger. Der Künstler und Fotograf Michael Tewes ist mit seinem VW-Bus von Ausfahrt zu Ausfahrt, Parkplatz zu Parkplatz, Rastplatz zu Rastplatz gefahren. Sechs Jahre lang besuchte er diese „dritten Landschaften“, wie er sie nennt. Es sind Niemandsorte, diese Randzonen versiegelter Flächen, in denen sich eine Parallelwelt auftut.
Tewes hat dokumentiert, was sonst unbeachtet bleibt: Stillleben zwischen Asphalt und Natur. Ein paar schwimmende Schwäne in einem Entwässerungsteich. Moos, das den Asphalt eines aufgegebenen Parkplatzes überzieht. Kreisförmige Reifenabriebsmuster auf einem Parkplatz. Türkisblau getünchte Rastbänke, die selten genutzt werden, weil es alle eilig haben. Eine Autobahnkirche neben einer Burger-Filiale.
Mehr als 800 Aufnahmen sind in diesen Jahren entstanden; die besten von ihnen präsentiert er im großartigen Bildband „Auto Land Scape“ (Hatje Cantz Verlag) und in einer neuen Sonderausstellung des Deutschen Museums München (noch bis zum 31. Oktober 2022).
Tewes selbst nennt sich einen Autobahn-Native. „Ich bin in den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik geboren, zur Zeit der Energiekrise und der autofreien Sonntage mit ebenso leeren Autobahnen. Die Stadt Remscheid, in der ich aufgewachsen bin, hatte eine Weile den Marketingclaim ,Remscheid 1a an der A1‘ – das war ohne jegliche Ironie gemeint.“ Familienurlaube gingen für ihn als Kind stets über die Autobahn zur süddeutschen Verwandtschaft oder an den Luganer See. Er erinnert sich: „Mit Musikbeschallung aus einem Küchenradio, das meine Eltern an den Zigarettenanzünder anschlossen.“
Es war eine Zeit, in der im Radio „Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn“ rauf- und runterdudelte, der Welthit der Elektropopband Kraftwerk, quasi die Hymne der deutschen Highways: das Anlassgeräusch eines Motors, ein Hupen, eine verfremdete Stimme, die das Wort „Autobahn“ wiederholt. 22 Minuten und 48 Sekunden, eine ganze LP-Seite nahm das Titelstück des Kraftwerk-Albums von 1974 ein.
Der perfekte Sound für Tewes’ Trip in die Welt der Autobahnen, die nur auf den ersten Blick eine ständige Wiederholung von Asphaltkilometern und Brücken, von Hinweisschildern und Ausfahrten ist. Tatsächlich steckt hinter der vermeintlichen Monotonie jede Menge Kurzweil und Überraschung.