Leuchttürme hätten unendlich viel zu erzählen aus ihrem langen Leben. Von unzähligen Schiffen, die sie sicher durch Sturm und Nacht leiteten. Von namenlosen Seefahrern, denen ihr Licht lang ersehnten Landgang verhieß. Von den verlorenen Seelen, denen einmal die Handbreit Wasser unterm Kiel fehlte.
Ein paar wenige Leuchttürme strahlen aber mit einer Zugabe, einer ganz besonderen Episode. Rubjerg Knude Fyr in Nordjütland ist einer von ihnen. 2019 wurde der 23 Meter hohe und 700 Tonnen schwere Koloss mit monströsen Hydraulikpressen in die Luft gehievt, um dann im Schneckentempo auf Schienen gut 70 Meter ins Landesinnere bugsiert zu werden.
Eine der wichtigsten Landmarken auf dem dänischen Festland konnte so, zumindest vorerst, vor dem Verschwinden bewahrt werden. Ein Video von 2019 zeigt den spektakulären Umzug:
120 Jahre alter Leuchtturm zieht um
Im Nordwesten Dänemarks ist ein 120 Jahre alter Leuchtturm wegen der Erosion der Nordseeküste landeinwärts verlegt worden. Der Leuchtturm befindet sich auf einer Klippe 60 Meter über dem Meeresspiegel.
Quelle: WELT/Mick Locher
Der Abgrund gähnte damals gefährlich nah am Fundament. Eine unaufhaltsame Allianz aus Wind und Wellen hatte Jahr für Jahr knapp zwei Meter in die vernarbte Steilküste gefressen und Abermillionen Tonnen Sand und Ton fortgetragen. Und sie tut es noch immer.
Dem alten Gemäuer, das anno 1899 vorsorglich 200 Meter von der Abbruchkante entfernt errichtet worden war, drohte das viel zitierte „unausweichliche Schicksal“, 60 Meter in die Tiefe zu stürzen. So wie es vor ihm schon mit Hunderten Wehrmachtsbunkern geschehen war.
Doch es sollte anders kommen. Denn für die Dänen ist Rubjerg Knude Fyr nicht einfach nur ein Leuchtturm, sondern der Wächter der dramatischsten Landschaft Jütlands. Einer Landschaft, deren Wandelbarkeit davon Zeugnis ablegt, dass Zerstörung auch Schöpfung sein kann.
Aus der Düne Rubjerg Knude ragt der Leuchtturm
Der Turm thront auf der höchsten Erhebung von Lønstrup Klint. Die Steilküste wurde von den letzten Eiszeiten aus Sand und Ton gepresst, seitdem haben sich Dutzende Meter losen Flugsandes auf ihr abgelagert. Entstanden ist so die meistbesuchte Wanderdüne Dänemarks.
Ein Stück Sahara in Jütland, aus der ein fast surreal wirkender Leuchtturm ragt. Die Düne wuchs und wuchs, bis sie sogar das Scheinen seines Leuchtfeuers unmöglich machte. Alles Bepflanzen und Freibaggern half nichts, am 1. August 1968 leuchtete der Turm ein letztes Mal.
Dabei war es der Mensch selbst, der sein vorzeitiges Ende besiegelte. Er ordnete die Landschaft und unterwarf sie seinen Bedürfnissen. Stattlicher Eichen- und Buchenwald wurde großflächig abgeholzt, um verfeuert und seine Flächen beackert zu werden.
Der Schlösser- und Schiffsbau der Renaissance verschlang dann den restlichen Wald. Die Zeiten, in denen Baumriesen nach einem langen Leben ehrenvoll in sich zusammenbrechen durften, waren endgültig vorbei. Auf verschwindende zwei Prozent Landesfläche schrumpfte der Waldbestand. Flugsand übernahm die Regie.
So wandert der riesige Sandkasten namens Rubjerg Knude Jahr für Jahr unaufhaltsam ein paar Meter weiter und wälzt sich über grüne Salzwiesen, rosa blühende Wildrosensträucher und orange leuchtende Sanddornbüsche. Aber die Jütländer wären eben nicht Jütländer, wenn sie nicht versuchen würden, ganz pragmatisch im Hier und Jetzt das Beste aus der Vergangenheit zu machen.
Mit Beharrlichkeit werden inzwischen Wälder wieder angepflanzt, regenerative Energien gefördert, das Himmerländer Hochmoor renaturiert, in dem jahrzehntelang ohne Rücksicht auf Verluste Torf gestochen wurde. Oder es wird eben ein ganzer Leuchtturm versetzt.
Nordjütland ist alles, nur nicht hyggelig
Es ist schon ein ganz eigener Menschenschlag da oben an Dänemarks Festlandspitze. Der überstrapazierte Begriff „hyggelig“ lässt sich auf die Nordjütländer nicht anwenden. Das alltägliche Leben auf dem flachen, windgepeitschten Land ist eben oftmals alles andere als gemütlich.
Als der Leuchtturm Rubjerg Knude Stein auf Stein gemauert wurde, war das Leben hier noch herausfordernder als heute. Die eigene Poesie dieser kargen Küste und ihrer schweigsamen Menschen beschreibt der im nordjütländischen Farsø geborene Schriftsteller Johannes V. Jensen (1873–1950) mit berührender Einfühlsamkeit.
Seine Protagonisten sind oft „großgewachsene, bedächtige Leute“, denen es „meist nicht an äußerer Auffälligkeit mangelt“, mit „aufmerksamen Augen, bei deren Blick es den Menschen fröstelte“. In gradliniger Erzählkunst porträtiert der Literaturnobelpreisträger Hoferben, Mägde oder den Schmied. Menschen, die mit der „hilfreichen Beschränktheit des Horizonts“ ihren Platz in der bäuerlichen Dorfgesellschaft finden.
Kinder, in deren Händen „der unfruchtbare Flugsand zu einem wertvollen Schatz aus kleinen, winzig kleinen Juwelen in vielen feinen und gleichsam fernen Farben“ wird. Eltern, die „sozusagen doppelten Boden beackern“, da sich eben dieser Sand auf ihre schwarze Ackerkrume gelegt hat, „in dem Bewusstsein, dass die Verhältnisse durchaus besser sein könnten, die Möglichkeiten jedoch unter ihren eigenen Füßen begraben liegen“.
Menschen, die ausbrechen oder es zumindest versuchen. Die vom fernen Kopenhagen träumen oder gar von Amerika. Nachbarn, die gehen und nie wieder gesehen werden. Denn „der Himmel über diesem Land ist so still, und es klingt so einsam, wenn eine Seeschwalbe ihn durchstreift und hoch oben schreit“.
Eine Wahrheit jenseits der Ferienhäuser in den Dünen
Nein, Jensens Nordjütland ist alles, nur nicht hyggelig. Es katapultiert den Leser in längst vergangene Tage, bereitet Gänsehaut, lässt ihn nicht mehr los und gleichzeitig hörbar aufatmen, dass die Welt heute mit all ihrem Komfort und Absicherungen eine andere zu sein scheint. Und trotzdem beschleicht einen das Gefühl, dass die virtuosen Erzählungen viel aktueller sein könnten, als einem vielleicht lieb sein mag.
Wer sich mit diesen Büchern auf Jütland-Reise begibt – Jensens „Himmerlandsgeschichten“ von 1904 sind 2020 auf Deutsch erschienen – erkennt eine Wahrheit jenseits der schmucken Ferienhäuser, die sich sanft in die Dünen ducken. Sie passt zu der herben Schönheit der Natur, die der Seele schmeichelt und einen Flirt mit ihr beginnt. Einmal vom rauen Charme berührt, kommen viele Besucher Jahr für Jahr wieder. Auch zu ihrem Leuchtturm.
Lønstrup Klint ist niemals die gleiche Steilküste, auf der sie ihn wiederfinden, denn die Brandung reißt stetig neue Wunden ins Gestein. Rubjerg Knude ist niemals die gleiche Düne. Denn der Wind hat unendlich viel Raum auf offener See, um tief Atem zu holen und den Sand nach Nordosten zu tragen, um auch dort eine neue dramatische Küstenlandschaft zu erschaffen.
Und Rubjerg Knude Fyr? Dem Wächter der Vergänglichkeit sind nun voraussichtlich 30 Jahre Ruhe vergönnt. Dann haben ihn die Urgewalten, die er zu zügeln versucht, wieder eingeholt.
Tipps und Informationen
Anreise: Üblicherweise per Zug nach Aarhus, weiter mit Mietauto oder Rad. Aktuelle Informationen zu den Einreisemöglichkeiten finden Urlauber unter: auswaertiges-amt.de
Unterkunft: Ferienhäuser gibt es ab 360 Euro/Woche (feriepartner.de). Für Familien: „Lønstrup Camping“, Stellplatz mit Strom ab 9 Euro sowie 11 Euro Gebühr pro Person, Bungalow ab 54 Euro/Tag (campingloenstrup.dk).
Weitere Infos: visitdenmark.de; visitnordjylland.de
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Visit Denmark. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.