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Deutschland Strandgut

Auch Schätze spült die Nordsee an den Strand

Von Sylt bis Süderoog – auf Deutschlands Nordseeinseln wird jede Menge Strandgut angetrieben. Es lohnt sich, die Augen offen zu halten, denn es ist keinesfalls nur Müll darunter. Wer sucht, findet manch skurrile Überraschung.
Hallig-Bewohner haben am Ufer der Hallig Süderoog eine Videokamera gefunden. Sie wurde zwei Monate zuvor an der Ostküste Großbritanniens von einer Welle ins Meer gespült Hallig-Bewohner haben am Ufer der Hallig Süderoog eine Videokamera gefunden. Sie wurde zwei Monate zuvor an der Ostküste Großbritanniens von einer Welle ins Meer gespült
Hallig-Bewohner haben am Ufer der Hallig Süderoog eine Videokamera gefunden. Sie wurde zwei Monate zuvor an der Ostküste Großbritanniens von einer Welle ins Meer gespült
Quelle: picture alliance / Holger Spreer

Es war der Deutsche Herbst. Und als im Oktober 1977 auf Sylt eine herrenlose Yacht strandete, war die Insel in Aufruhr. Der Strandungsfall der „Apollo“ entwickelte sich rasch zu einem Kriminalfall, denn die Sache war mehr als mysteriös: Fremde Männer machten sich bald an dem Schiff zu schaffen, hinter einer Verkleidung waren Waffen versteckt.

Kripo, Interpol, schließlich Großfahndung. Die flüchtigen Männer, es waren Dänen, wurden – nachdem sie sich über Rømø abgesetzt hatten – festgenommen. Niels Diedrichsen war seinerzeit Strandvogt an der Küste des Listlandes: „Terroristen, die Schleyer-Entführung, dann ein herrenloses Schiff am Strand, abgesägte Schrotflinten – was meinen Sie, was hier los war!“

Im Laufe seiner 35 Dienstjahre als Strandvogt hat Niels Diedrichsen einiges erlebt und viele Sachen am Strand gefunden und geborgen. Es war seine Aufgabe und seine Leidenschaft.

Strandgut an der Nordsee: Auch ein wertloser, einzelner Schuh hat seine Geschichte
Strandgut: Auch ein wertloser, einzelner Schuh hat seine Geschichte
Quelle: mauritius images / Naturfoto-Onl

Niels Diedrichsen, heute* 88 Jahre alt, lebt in List mittlerweile im Altenteil neben dem Osthof, den die Familie seit Generationen bewohnt. Die Familie ist Miteigentümerin des Listlandes und so fiel ihm, dem damals gerade 23-jährigen Landwirt, im April 1955 die Aufgabe des Strandvogtes zu.

Als Strandvogt für die Bergung der Fundsachen zuständig

„In meiner Funktion als Strandvogt war ich mehr als drei Jahrzehnte rund um die Uhr erreichbar, ich war bei Wind und Wetter am Strand“, erinnert er sich. Er hatte die Verantwortung für die Strandungsfälle – seien es Bojen gewesen oder ganze Boote.

Niels Diedrichsen war zuständig für die Bergung. „Ich musste die Fundsachen dem Strandhauptmann in Westerland und dem Zoll melden. Dann wurde versucht, die Eigentümer zu ermitteln. Gelang das nicht, wurden die Sachen zugunsten der Staatskasse verkauft. Es waren öffentliche Versteigerungen, die fanden hier bei uns auf dem Hof statt.“ Von dem Erlös bekam auch Niels Diedrichsen seinen Anteil.

Der Strandvogt hatte kein leichtes Amt – einerseits war er dem jeweiligen Landesherrn verpflichtet, andererseits musste er den Dorffrieden wahren. Lebte er doch in einer Gemeinschaft, die sich auf uraltes Gewohnheitsrecht berief, sich eben vom Strand zu holen, was die Nordsee gab.

Diedrichsens Strandabschnitt war 27 Kilometer lang. Unmöglich, alles zu überwachen. Was haben die Leute wohl vor ihm in den Dünen versteckt, fragt er sich noch heute. Im September 1990 erreichte ihn ein Brief vom Amt für Land- und Wasserwirtschaft, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass das Amt des Strandvogtes erloschen sei. Versteigerung und Verwaltung lohnten nicht mehr.

Holz war auf Inseln und Halligen wertvoll

Bis zur Einführung der Stahlcontainer wurde an der Nordsee viel Holz angespült; Küstenbewohner sammelten regelmäßig Balken und Bretter ein. Holz war auf den waldarmen Inseln wertvoll – und abzuliefern. Es wurde, wenn man es nicht verheizte, zum Bauen verwendet. Noch heute findet es sich in alten Häusern auf den Inseln, auch bei den Diedrichsens. Gefunden und gebraucht wurde fast alles.

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Auch auf den Halligen. Das Fahrgastschiff pflügt durch die Wellen, von Hörnum auf Sylt geht es über Amrum und Hallig Hooge nach Nordstrand. Und von dort mit einer Fähre weiter via Pellworm auf die kleine Hallig Süderoog.

Heute wählt der Kapitän die seeseitige Route um Amrum – dort, wo die Nordsee über die vorgelagerten Sandbänke brandet. Mit ungebremster Gewalt treffen hier Wind, Wellen und Strömungen auf die Küste, die Sände schützen Halligen und Inseln vor dem Gröbsten.

Zwischen Sandbänken und Amrums Westküste nimmt der Kapitän Kurs Süd-Südost. Backbord ist der endlose Kniepsand – Amrums riesiger Strand – zu erkennen. In den 70er-Jahren gab es dort ein kleines Hüttendorf, gebaut aus Strandholz.

Hier wird einem denn auch klar, wo man am besten auf die Suche nach Strandgut geht: außen, weit draußen. Dort, wo die Nordsee unmittelbar auf die Küste trifft, zum Beispiel an den Deichen Dithmarschens, am Strand von Sankt Peter-Ording, an der Westküste von Hallig Hooge, an den westlichen Stränden von Amrum und Sylt. Fragt man einheimische Strandläufer, wann die beste Zeit sei, um Treibgut zu suchen, sagen sie unisono: Geh nach starkem Westwind suchen!

Jeder Schuh hat eine Geschichte

Ankunft auf Hooge, auf der Hanswarft – dem Haupthügel der Hallig – steht die kleine Kunstgalerie von Familie Boyens. Handgefertigte Keramik, Wolle gibt es hier und schöne Aquarelle. Vor dem historischen Friesenhaus stehen Regale mit alten Schuhen.

„Im Jahr 1994 habe ich am Deich einen Schuh gefunden, und ich nahm ihn mit“, sagt Werner Boyens. Der 77-Jährige ist ein leidenschaftlicher Sammler und betreibt eine kleine Galerie auf Hallig Hooge. Heute stehen in den Regalen neben seiner Galerie mehr als 350 einzelne Schuhe; Arbeitsclog und Kinderschuh, bis Größe 50 und mit Zehn-Zentimeter-Absatz.

Werner Boyens betreibt eine kleine Galerie auf Hallig Hooge, wo man seine Schuhsammlung bewundern kann
Werner Boyens betreibt eine kleine Galerie auf Hallig Hooge, wo man seine Schuhsammlung bewundern kann
Quelle: Swantje und Leif Boyens, www.hal

„Jeder Mensch sammelt doch gern, und wenn ich etwas Schönes gefunden habe, dann nehme ich es mit.“ Boyens’ Sammlung wird ständig größer, denn wenn der ehemalige Kapitän nicht malt, geht er Schuhe sammeln. „Oft gehe ich auf dem Deich um die Hallig – und da liegen sie dann am Spülsaum. Ich suche keine Schuhe, die kommen zu mir.“

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Er sagt: „Jeder Schuh hat eine Geschichte!“ Fiel er vom Kutter? Kam er über die Elbe? Strandgut regt die Fantasie an. „In manchen Jahren finde ich zwanzig Stück, diese Wintersaison war ein eher mittelmäßiges Schuhjahr.

Die besten Chancen, um Schuhe oder überhaupt Strandgut zu finden, hast du hier auf Hooge nach stürmischen Tagen mit kräftigem Wind aus westlichen Richtungen.“ Dann legt er die Pinsel weg und geht wieder los an den Deich. „Wenn ich einen Schuh gefunden habe, dann ist es ein guter Tag.“

Strandgut bietet skurrile Überraschungen

Wenngleich es das Amt des Strandvogtes mit seiner Auflösung zu Beginn der 1990er-Jahre nicht mehr gibt, so existiert doch weiterhin Strandgut. Man muss nur die Augen offen halten, manchmal sind skurrile Überraschungen dabei.

Auf der kleinen Hallig Süderoog lebt Holger Spreer, eine Art moderner Strandvogt. Er ist einer, der Gästen das Kuriositätenkabinett des Meeres gern zeigt und ein paar Geschichten dazu erzählen kann.

Allerdings darf man Süderoog nur im Rahmen einer geführten Tour besuchen. Endlos wirkt hier das Watt, rund eineinhalb Stunden dauert der Fußmarsch von Pellworm aus in begleiteter Gruppe hinaus auf die einsame Hallig.

Ausstellungsraum mit Fundsachen auf der Hallig Süderoog: Nach Schätzungen gelangen jedes Jahr rund 20.000 Tonnen Strandgut und Müll in die Nordsee
Ausstellungsraum mit Fundsachen auf der Hallig Süderoog: Nach Schätzungen gelangen jedes Jahr rund 20.000 Tonnen Strandgut und Müll in die Nordsee
Quelle: picture alliance / Christian Cha

Auf Süderoog leben Nele Wree und Holger Spreer mit ihren Töchtern.* Das Paar zog 2013 auf die Hallig. Beide sind beim Land angestellt und arbeiten für den Küsten- und Naturschutz: Vögel zählen, aufpassen, dass niemand unbegleitet und unbefugt in diesem Teil des Nationalparks herumläuft, den Bestand der 60 Hektar kleinen Hallig samt ihrem Gebäude erhalten.

Sie haben darüber hinaus einen sogenannten Archehof aufgebaut, sie halten vom Aussterben bedrohtes Geflügel und Schafe und verkaufen überzähliges Fleisch. Wenn Wattwanderer oder Gäste per Schiff von Pellworm kommen, bewirten die beiden ihre Gäste mit Suppe, Kuchen und selbst gemachter Limonade. Auf dem stattlichen Bauernhof auf Süderoog prangt noch heute das Schild mit dem Landeswappen und dem Hinweis „Strandvogtei“.

Ein Gartenteich am Strand von Süderoog

Auch wenn es Strandvögte seit 1965 auf Süderoog nicht mehr gibt, so versteht sich Holger Spreer irgendwie auch als solcher. Denn als Nationalpark-Ranger kontrolliert er den Strand des vorgelagerten Süderoogsand, der ansonsten tabu ist, er birgt dort und anderswo Dinge, meldet sie gegebenenfalls und setzt sie wieder „in Wert“.

Das Paar stellt Hof und Hallig vor. Zuerst geht es hinauf in die Strandgutecke. Dort, im Kuriositätenkabinett, zeigt Spreer den Gästen seine Sammlung an Schönem und Sonderbarem aus dem Meer – „irgendwas findet sich immer!“

Sei es ein Fernseher mit englischem Anschluss oder eben ein Schuh. Strandgut hat oftmals einen weiten Weg und eine Geschichte zu erzählen. Manchmal muss man sich freilich selbst eine ausdenken.

Auf Süderoog wurde beispielsweise mal die Plastikform eines Gartenteiches angeschwemmt – hat die ein Schiffbrüchiger vielleicht als Rettungsboot benutzt? Und welchen Weg hat dieser hochhackige Frauenschuh in der ungewöhnlichen Größe 43 hinter sich, bevor er hier strandete?

Dinge von Wert gehen an das Fundbüro

„Die Wintermonate sind normalerweise die Bringer“, sagt Holger Spreer, aber in dieser Saison wurde weniger angespült als üblich. „Früher war es ja noch echtes Strandgut – mit der Betonung auf Gut, im Sinne von Ware oder Wert. Inzwischen ist es meist nur noch Müll.“

Trotzdem gibt es ihn noch heute, den Meer-Wert. Aber: Fundsachen von Wert darf man nicht einfach behalten und verkaufen. Wenn Spreer, und das gilt auch für alle anderen Strandgutsucher, Dinge von Wert findet, müssen diese gemeldet und beim Fundbüro abgegeben werden.

Als Gebietsbetreuer ist der Nationalpark-Ranger Holger Spreer auch auf dem vorgelagerten Süderoogsand und im Wattenmeer unterwegs. Manchmal findet er ein schönes Stück Holz, doch das nimmt er nur dann mit nach Hause, wenn das nicht gegen die Bestimmungen zum Schutz von Natur und archäologischen Funden verstößt.

Schätze und erkennbar Altes werden abgeliefert. Normales Strandholz ist kein Problem. „Sand und Wasser polieren das Holz, mit der Zeit verfeinern sich Form und Farbe“, sagt er. „Daraus basteln wir dann zum Beispiel Kerzenständer oder Garderoben, Lampen oder kleine Kunstwerke.“ Das Holz hat hin und wieder eine schöne Maserung und – wer weiß – vielleicht auch eine spannende Geschichte.

Auch Bernstein spült die Nordsee an

Manchmal ist es eben doch nicht nur Müll, was da am Nordseestrand angespült wird. Vielleicht ist es sogar mal ein Stück Bernstein. Davon hat Holger Spreer natürlich auch welche gefunden – und sieht man nur genau hin, glückt einem das vielleicht auch selbst. Weit draußen und bei westlichen Winden stehen die Chancen am besten.

Der moderne „Strandvogt“ Spreer, der auf dem Außenposten in der Nordsee lebt und seine Augen immer offen hält, der blickt beim Spaziergang auch auf etwas ganz anderes, nämlich auf Fahrwassertonnen. Das sind blinkende Bojen, gute halbe Tonnen schwer, ziemlich wichtig und teuer.

Macht sich eine im Orkan selbstständig und Holger Spreer findet sie irgendwo da draußen um Süderoog, dann schleppt er die Boje ab und gibt sie dem Wasseramt zurück. Dafür gibt es dann Bergelohn, so viel, dass sich genaues Hinsehen lohnt.

Die Geschichte der Kamera ging um die Welt

Der skurrilste Fund fand im Herbst 2017 statt. Da fand der Vater von Holger Spreer am Ufer der Hallig einen schwarzen Kasten. Nachdem sie ihn gesäubert, ausgepackt und an ein paar Knöpfen herumgedrückt hatten, begann dieses Strandgut tatsächlich eine Geschichte zu erzählen, von einem Jungen, der seine Kamera am Strand von Yorkshire in England verloren hatte, eben jenes Fundstück.

Die Kamera, zum Glück wasserdicht verpackt, filmte Verlust und Untergang. Flut und Strömung trieben das Stück auf Süderoog an. Über Facebook wurde der Besitzer gefunden und der Fund an den Jungen zurückgegeben. Die Kamera ging um die halbe Nordsee, ihre Geschichte um die Welt.

„Ich bin sprachlos, dass ich die Kamera wiederhabe“

Wochenlang trieb seine Kamera im Wasser, bevor sie an der Küste von Schleswig-Holstein landete. Der zehnjährige William reiste nun mit seiner Familie aus England nach Süderoog, um sie abzuholen.

Quelle: WELT/ Tobias Stammberger

Tipps und Informationen

Strandrecht: Nach einer 1990 in Kraft getretenen Gesetzesänderung gilt für Strandgut seither das Fundrecht. Das heißt, wer Strandgut findet, muss es im Fundbüro abgeben oder melden, davon ausgenommen sind Funde mit geringem Wert.

Auskunft: Anreise- und Übernachtungsmöglichkeiten unter halligsuederoog.de, allgemeine Infos unter nordseetourismus.de und sylt.de.

*Dieser Artikel wurde erstmals im Mai 2020 veröffentlicht.

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Sylt Marketing und Nordsee-Tourismus-Service. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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