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Deutschland Die große Flatter

Im Herbst wird Juist für Zugvögel zur Raststätte

Der Herbst ist die beste Zeit, um Wintergoldhähnchen, Schneeammer und andere seltene Vögel in freier Wildbahn zu erleben. Vor allem die Nordseeinsel Juist ist in diesen Wochen ein perfekter Ort für Birdspotter.
Auf Juist fressen sich die Gänse satt, dann fliegen sie in großen Schwärmen weiter nach Süden Auf Juist fressen sich die Gänse satt, dann fliegen sie in großen Schwärmen weiter nach Süden
Auf Juist fressen sich die Gänse satt, dann fliegen sie in großen Schwärmen weiter nach Süden
Quelle: Getty Images/LOOK/Konrad Wothe/LOOK-foto

Es ist Herbst geworden, und es sind Zugvogeltage auf Juist. Sanddornbeeren hängen an den Ästen und biegen die Sträucher nach unten, die Beeren leuchten grellorange in der Herbstsonne. Die Pferde, die über die gepflasterten, autofreien Gassen des Dorfes Juist traben, haben bereits den Atem sichtbar vor den Nüstern stehen.

Und überall am Himmel sieht man Vögel kreisen – einzeln, in Gruppenformation, in dichten Schwärmen. Und wenn sie nicht gerade fliegen, sitzen sie auf Bäumen und Wiesen, in den Dünen und im Watt, unentwegt mit Nahrungsaufnahme beschäftigt.

Auf Juist, aber auch anderswo an der niedersächsischen Nordseeküste, werden momentan jede Menge Exkursionen rund um die große Flatter angeboten, für Birdspotter ist jetzt die beste Zeit des Jahres. Die großen Schwärme machen sich von hier aus auf den weiten Weg in den Süden.

Ans Mittelmeer, nach Afrika, gar bis in die Antarktis verabschieden sie sich für die nächsten Monate. Gleichzeitig treffen große Schwärme aus Skandinavien, aus Sibirien und von oben aus der Arktis ein, die hier, auf Juist und an der Küste, den Winter verbringen.

Pro Saison rund zwei Millionen Zugvögel

Zwischendrin seltene Gäste. Wer kennt schon das Wintergoldhähnchen? Wer hat je eine Schneeammer gesehen? Hier und jetzt besteht die Gelegenheit, diese Tiere zu Gesicht zu bekommen. Am besten im Rahmen einer geführten Exkursion.

Vogelwart Frank Rabenstein sammelt seine Gruppe am Inselflugplatz ein. Wer mit ihm unterwegs ist, hat gute Chancen, den Überblick im An- und Abflug zu behalten. Immerhin werden hier pro Saison rund zwei Millionen Zugvögel gezählt.

Schneeammer im Landeanflug: Die Vögel überwintern an der Nordsee, brüten und leben im Sommer aber in der arktischen Tundra
Schneeammer im Landeanflug: Die Vögel überwintern an der Nordsee, brüten und leben im Sommer aber in der arktischen Tundra
Quelle: PA/imageBROKER/Saverio Gatto

Rabenstein schultert das Spektiv und macht sich auf den Weg. Der 45-Jährige Ostfriese ist seit seiner Kindheit Vogelliebhaber. Seit 20 Jahren ist er für den Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz als Dünen- und Vogelwart auf Juist unterwegs.

„Nach dem Zivildienst auf Langeoog habe ich zunächst Wasserbauer gelernt und als mir dann die Stelle als Vogelwart auf Juist angeboten wurde, habe ich sie angenommen.“ Aus Leidenschaft wurde ein Beruf – so kennt Rabenstein nicht nur die einheimischen und durchziehenden Vögel der Insel, sondern auch die besten Plätze, um sie zu beobachten.

Der Weg mündet in einen sandigen Pfad, dieser führt hinunter zur Wattseite der Insel und biegt dann nach Osten ab. Noch ist das Gras eher grün als gelb, doch hat es schon einen herbstlichen Einschlag.

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Links liegen die Dünen, dahinter die offene See, und rechter Hand breitet sich eine topfebene Salzwiese aus, die übergangslos ins Watt führt. Es ist auflaufendes Wasser. Die Sonne lässt es grell aufgleißen, durch den Herbsthimmel segeln Wolken, ihre Schatten jagen über Watt, Wasser und Wiese.

Auf Juist brüten Brandgänse in Fuchsbauten

Bald sind Brandgänse zu sehen, trotz ihres Namens zählen sie zu den Enten. Es sind typische Vögel dieser Gegend, mit interessanter Angewohnheit: „Sie brüten in aufgegebenen Kaninchenbauten“, sagt Rabenstein. „Brandgänse können auch in bewohnten Fuchsbauten brüten, da Füchse im Bau keinen Jagdtrieb haben.“

Austernfischer auf Juist: Der Vogel mit dem schwarz-weißen Gefieder und den roten Beinen ist ein typischer Bewohner der deutschen Nordseeküste
Austernfischer auf Juist: Der Vogel mit dem schwarz-weißen Gefieder und den roten Beinen ist ein typischer Bewohner der deutschen Nordseeküste
Quelle: PA/imageBROKER/Erhard Nerger

Der Wind frischt auf, das Gras bewegt sich in Wellen wie ein grünes Meer, es raschelt und rauscht. Der Weg führt nun Richtung Inselosten, immer wieder erlaubt die Salzwiese einen Blick auf das offene Wattenmeer. Mit dem auflaufenden Wasser kommen auch die Watvögel näher ans Ufer und lassen sich besser beobachten.

Rabenstein baut sein Spektiv auf. Mit bis zu 60-facher Vergrößerung holt die Optik weit entfernte Vögel nah heran. Das ist praktisch, denn die Salzwiesen und das Ufer des Wattenmeeres sind Schutzgebiet und für Besucher tabu. Auch der Ostteil von Juist, der Kalfamer, darf nur vom 1. August bis 31. März betreten werden – und zwar ausschließlich auf dem ausgewiesenen, mit Pflöcken markierten Weg.

Inzwischen hat der Vogelwart Austernfischer in den Dünen gesichtet und scharf gestellt. Der auffällige Vogel mit dem schwarz-weißen Gefieder und den roten Beinen ist ein typischer Bewohner der deutschen Nordseeküste, während die Alpenstrandläufer, die jetzt im Sucher auftauchen, aus arktischen Gefilden kommen und Juist als Rastplatz nutzen. Die einen fressen übrigens keine Austern, die anderen haben mit den Alpen nichts zu tun.

Der kleinste Vogel auf der Insel wiegt fünf Gramm

Wer mit Rabenstein unterwegs ist, merkt schnell: Zur Vogelbeobachtung braucht es neben Ruhe auch Geduld. Man muss sich auf die Landschaft einlassen. Das fällt hier nicht schwer.

Es ist eine zwar raue, fast karge nordische Küstenlandschaft, aber trotzdem ist sie gefällig und stimmig, zumal wenn sich das Herbstwetter trotz aller Wolken von seiner sonnigen Seite zeigt. Und da Rabenstein immer wieder neue Vogelarten entdeckt und die Gruppe durchs Spektiv spähen lässt, kommt keine Langeweile auf.

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Ab und zu flattert eine Vogelformation in V-Form am Himmel. Die typischen Rufe verraten: Hier sind Gänseflugstaffeln unterwegs. „Die Wiesen und Watten von Juist sind ein beliebter Rastplatz für die ganz großen Gänseschwärme auf dem alljährlichen Vogelzug von Nord nach Süd. Gerade jetzt im Herbst haben wir hier auf der Insel täglich bis zu 2000 Ringelgänse, mehrere Hundert Graugänse und immer mehr Nonnengänse.“ Die Tiere fressen sich vor ihrem Weiterflug auf Juist satt, Seegras und Grünalgen im Watt zählen zu ihren Spezialitäten.

Im Herbst finden sich auf Juist allein mehrere Hundert Graugänse täglich ein
Im Herbst finden sich auf Juist allein mehrere Hundert Graugänse täglich ein
Quelle: Getty Images

Auch Raubvögel kommen hin und wieder vor Rabensteins Spektiv. „Aus Skandinavien ziehen zum Beispiel Sumpfohreulen zu uns und bleiben hier, während die einheimischen Nordsee-Sumpfohreulen meist ab September ans Mittelmeer fliegen, um dort zu überwintern.“ Wer nicht das Glück hat, eine solche Eule zu sichten, hört vielleicht ihren kläffenden Warnruf und den kräftigen Flügelschlag.

Inzwischen hat die Gruppe die Aussichtsplattform am Schutzgebiet Kalfamer, Niederdeutsch für Kälberwiese, erreicht. Ein Mitglied der Birdspotter entdeckt etwas in der dortigen Hütte: einen winzigen, aufgeregten Vogel. Mithilfe von Frank Rabenstein gelingt es, das verirrte Tier vorsichtig ins Freie zu lotsen. „Das war ein Wintergoldhähnchen; mit fünf Gramm Gewicht ist es der kleinste unserer Vögel“, sagt der Vogelwart.

Schwarmintelligenz am Nordseehimmel

Die offizielle Führung ist hier zu Ende. Wer mag, kann Vögel auf Juist aber auch auf eigene Faust beobachten. Rabenstein empfiehlt die Gegend um die alte Müllkippe zwischen Dorf und Flugplatz mit großartigem Blick auf das Ufer des Wattenmeers („eine Stunde vor Hochwasser ist das ideal“).

Oder man geht durch die Dünen zur offenen Nordsee oder auf dem Pfad in das Schutzgebiet hinaus zur Ostspitze. „Hier stehen die Chancen ganz gut, eine Schneeammer zu sehen“, sagt Rabenstein. „Das ist ein typischer Überwinterungsvogel bei uns. Er brütet und lebt im Sommer in der arktischen Tundra.“

Wahre Vogelmassen lassen sich während der Zugvogeltage auf Juist individuell am besten vom Billriff aus sichten. Dort, ganz im Westen der Insel, rasten und fressen laut Rabenstein teilweise mehrere Zigtausend Vögel gleichzeitig. Am besten kommt man mit dem Fahrrad dorthin, Busse gibt es auf der autofreien Insel ja nicht. Bei kräftigem Gegenwind ist das ein gutes Stück Arbeit.

Am westlichen Ende von Juist rollt die Nordsee mit ungebremster Kraft auf das Land. Grollend, fast wütend laufen die Wellen auf. Der weiße Schaum leuchtet vor der Kulisse der dicken Wolken. Es ist ein Ort des Übergangs, Land und Meer in inniger Umarmung und ständiger Veränderung. Riesige Vogelschwärme tanzen am Himmel, vielleicht sind es Stare, vielleicht auch Knutts – Vogelwart Frank Rabenstein würde das sicher wissen.

Vogelschwarm veranstaltet Naturspektakel

Hunderttausende Vögel sorgen jedes Jahr in Israel für ein wahres Schauspiel am Himmel. Riesige Schwärme formen einzigartige Figuren - so finden sie leichter Futter und sind besser vor Raubvögeln geschützt.

Quelle: WELT/Louisa Lagé

Die schwarzen Vogelwolken, die sich mal entfernen und dann wieder näher kommen, wirken vor der untergehenden Sonne wie ein sich im Sekundentakt verändernder Scherenschnitt in immer neuer Formation. Mal meint man, die Vögel würden sich zu einem Zeppelin in Originalgröße formieren, dann wieder wirkt der Schwarm wie ein überdimensioniertes Fragezeichen.

Nur scheinbar fliegt und flattert es durcheinander, doch es ist kein irrer Tanz, der da gerade am Himmel über Juist aufgeführt wird. Die Performance sitzt perfekt, als hätten sich die Vögel abgesprochen; selbst bei spontanem Wechsel der Flugrichtung kommt es zu keinen Zusammenstößen, alles geht fließend, wie von Geisterhand gesteuert, unfallfrei von einer Formation in die nächste über. Was für ein Naturerlebnis, was für ein Gänsehautmoment! Schwarmintelligenz im Wortsinn.

Tipps und Informationen zu Juist

  • Die Insel ist autofrei. Juist wird über den Fährhafen Norden-Norddeich erreicht, die Fährfahrt dauert rund 90 Minuten (reederei-frisia.de). Norddeich-Mole ist entweder bequem mit der Bahn (Regionalzüge und Intercity-Verbindungen) bis an den Schiffsanleger zu erreichen oder mit dem Auto über die A28/A31 bis Emden, dann weiter auf der B210/B72 über Norden nach Norddeich. Es gibt außerdem einen Flugdienst ab Norddeich nach Juist (inselflieger.de).
  • Ausführliche Urlaubsinformationen zu Juist (unter anderem mit einer Liste sämtlicher Unterkünfte auf der Insel sowie mit Reisepauschalen) finden sich unter juist.de; Information zu naturkundlichen Themen und diversen Exkursionen gibt es hier: nationalparkhaus-wattenmeer.de/juist; zugvogeltage.de
Quelle: Infografik WELT

Drei weitere Vogelzug-Spots in Deutschland

  • Den Bodensee bezeichnen Vogelbeobachter gern auch als den Frankfurter Flughafen des Vogelzugs, soll heißen: Er ist ein ganz wichtiger Landeplatz auf der Nord-Süd-Achse der großen Vogelreise. Die Leute von der Nabu-Station Wollmatinger Ried bieten zum Beispiel Exkursionen in ebendieses Naturschutzgebiet an – eine Gegend mit offenem Wasser, einem Schilfgürtel und einer Landzone mit Wiesen und Gebüsch. Mit Fernglas und Spektiv werden die Hauptdarsteller herangeholt, allein die Anzahl an verschiedenen Enten ist erstaunlich – Krick-, Reiher-, Kolben- oder Tafelente sind zu sehen, weiter draußen auf dem Wasser zudem die Schellente. Auch Kiebitze, hübsche Vögel mit Federschopf und typischem Ruf, überwintern am „Schwäbischen Meer“, einem der größten Gewässer zwischen Nord- und Südeuropa. Singschwan, Höckerschwan und Zwergschwan können ebenfalls beobachtet werden. Informationen – auch zu Führungen – unter nabu-wollmatingerried.de
  • Seltsame Schwärme von Vögeln tauchen derzeit regelmäßig in der Dämmerung am Gotteskoogsee auf, nahe der Grenze zu Dänemark. Diese Vögel, Stare auf dem Weg nach Süden, sammeln sich zur Rast in den Marschen Nordfrieslands zu Tausenden, vereinen sich zu Zigtausenden und fliegen auf der Suche nach einem Schlafplatz auch mal zu Hundertausenden ein. Diese Schwärme führen ein irres Ballett am Abendhimmel auf: Mal fliegt der Schwarm geschlossen in eine Richtung, dann dreht und windet er sich in sich selbst, stürzt in Richtung Boden, stößt in den Himmel. Die Manöver sind abrupt, doch perfekt choreografiert; ein irres himmlisches Ballett. Infos zur Tour am Gotteskoogsee unter nkm-niebuell.de, Touren zum „Tanz der Stare“ veranstaltet der Däne Iver Gram (sortsafari.dk). Weitere Informationen zur Nordseeküste Schleswig-Holsteins unter nationalpark-wattenmeer.de/sh/service/publikationen/faltblatt-vogelkiek/4829.
  • Wenn sich der Abend über das Große Moor nahe Vechta in Niedersachsen senkt, sind seltsame Vogelrufe zu hören, ein komisches Krächzen weht dann über die ertrunkene Landschaft. Kraniche sind im Anflug, ihr typisches Trompeten ist zu vernehmen, lange bevor die majestätischen Vögel zu sehen sind. Bald sind erste Formationen zu erkennen; dann immer mehr, ganze Geschwader kreisen am Himmel. Sie drehen ihre Runden, sinken wellenförmig herab, fallen geradezu vom Himmel. Nun schallen ihre Rufe über das neblige Moor, die Luft scheint zu vibrieren vom Geflatter und Getröte, nicht nur die kühle Herbstluft lässt frösteln – komisch, dass die Rufe der Kraniche in der Gegend als Glücksbringer gelten. Ein ergreifendes Schauspiel ist die große Kranichflatter aber allemal. Auskünfte zum Gebiet mit Ausstellungen, Naturführungen, Veranstaltungen und Sichtungsstatistik gibt es im Naturinformationszentrum Haus im Moor, niz-goldenstedt.de.

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von der Gemeinde und Kurverwaltung Juist. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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