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Deutschland Memmert in der Nordsee

Ausflug auf eine verbotene Insel im Watt

Das ostfriesische Memmert ist für seltene Vögel reserviert. Ab August haben Urlauber aber für kurze Zeit die Chance auf einen Besuch. Mit einem Experten dürfen sie die Düneninsel im Wattenmeer erkunden.
Ostfriesische Inseln: Memmert vor Juist im Nationalpark Wattenmeer ist seit fast hundert Jahren streng geschützte Vogelkolonie Ostfriesische Inseln: Memmert vor Juist im Nationalpark Wattenmeer ist seit fast hundert Jahren streng geschützte Vogelkolonie
Wilde Natur: Memmert vor Juist im Nationalpark Wattenmeer ist seit fast hundert Jahren streng geschützte Vogelkolonie
Quelle: pa/Ingo Wagner/dpa

Verwehter Nieselregen ist der Begleiter dieser Expedition in eine verbotene Wildnis. Irgendwo im Watt vor der Insel Juist liegt es: Memmert, das Düneneiland, aufgetaucht aus der Nordsee vor ein paar Jahrhunderten und seitdem driftend mit allem, was darauf lebt. Vögel, Zigtausende, darunter extrem seltene, Gebüsch und Bäume und Gras.

Und Inselvogt Enno Janßen. Der Hüter von Memmert ist der einzige Mensch, der das Eiland zeitweise bewohnt. Außer ihm darf niemand die Vogelschutzinsel ohne Ausnahmegenehmigung betreten. Nur ab August, dem Ende der Brutzeit, darf Memmert für begrenzte Zeit von Urlaubern besucht werden – und zwar ausschließlich im Rahmen von geführten Exkursionen mit dem Boot.

Jens Heyken, Chef des Nationalpark-Hauses auf Juist, zählt die Gäste auf der „Wappen von Juist“ und hakt die Liste ab, Kapitän Gerhard Eilers lässt den Diesel an. Die Hauptmaschine wummert gutmütig, unter Deck ist es gemütlich. Käpt’n Eilers wird den Weg durch das Watt finden, wie schon seit 50 Jahren. Es ist zweieinhalb Stunden nach Hochwasser, höchste Zeit zum Ablegen. Sonst ist der Weg nach Memmert heute nicht mehr zu schaffen.

Eine der letzten wirklich wilden Gegenden in Deutschland

„Das Schiff hat zwar nur 80 Zentimeter Tiefgang, aber läuft das Wasser noch weiter ab, kommen wir nicht mehr durch“, sagt Eilers und steuert bei minimaler Fahrt auf den Sandrücken westlich der Hafeneinfahrt zu: das Nadelöhr. Und es geht sachte, sachte noch gerade eben rüber. Mit dem Ebbstrom lässt Gerhard Eilers die „Wappen von Juist“ nach Westen ziehen.

Zwei Stunden Schleichfahrt durch einen Irrgarten aus Sandbänken und Wasserläufen, aus Schlickflächen und Lagunen. Immer mehr grauer Meeresboden taucht auf. Und immer mehr Vögel sind darauf zu sehen. Auf den trockenfallenden Flächen suchen sie nach Nahrung.

Frühere Fahrrinnen sind zugesandet, Sandbänke aufgespült, tiefe Kolke ausgewaschen; die Wege müssen jedes Jahr neu erkundet werden. Deshalb stehen Birkenstämmchen im Watt, diese Pricken markieren das Fahrwasser. Der Meeresboden mit seinen Sandbänken und Prielen ist in ständiger Bewegung; nichts ist morgen so, wie es gestern noch war.

Voraus liegt ein heller Streifen Sand. Memmert ist in Sicht. Eine fremde Welt, in der der Mensch keinen Einfluss hat. Solche Gebiete, die Watten mit ihren aufwachsenden Sänden, gehören zu den letzten wirklich wilden Gegenden in Deutschland.

Steuerbord sind Seehunde zu sehen, links wird die Leiter klargemacht. Die „Wappen von Juist“ hat Grundberührung. Käpt’n Eilers steuert sein Schiff behutsam auf den Sand. Die Passagiere steigen aus und waten durchs knietiefe Wasser.

Expedition zur Vogelinsel Memmert in der Nordsee
Besucher landen auf der Vogelinsel, die für Menschen die meiste Zeit des Jahres tabu ist
Quelle: Jens Heyken

Als sich die Gruppe am Strand versammelt hat, erklärt Jens Heyken den Plan: „Wir werden eine gute Stunde auf dem Weststrand wandern und dann die Dünen und die Salzwiesen queren, um auf den Norddünen am Reetdachhaus den Vogelwart zu besuchen. Danach sammelt uns der Käpt’n hier wieder ein.“

Juist ist als Silhouette am Horizont zu sehen

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Die „Wappen von Juist“ verschwindet rasch, das Wasser strömt durch die Priele und zieht das Schiff fort. Die wenigen Personen, die am Strand spazieren, wirken verloren. Seegras und Tang liegen auf dem Strand, Muschelschalen klirren bei jedem Schritt. Juist ist als Silhouette eben noch am nordöstlichen Horizont zu erkennen.

Jens Heyken erzählt von der Geschichte der Gegend: „Im Mittelalter zerstörten zwei mörderische Orkanfluten das Land und formten die Küste völlig neu. Juist, Borkum und Norderney – und noch weiteres Land – gehörten wohl einst zusammen.“ Diese größere Insel wurde zerrissen, viel Land ging unter. Historische Seefahrtkarten zeigen zwei geheimnisvolle Inseln, Bant und Buise, wo heute nur noch Wasser und Watt ist.

Dann tauchte im 17. Jahrhundert eine Sandbank dort auf, wo einst wohl schon einmal Land war: Memmert. Vor der gesamten Wattenmeerküste bilden sich hier und dort Sandbänke, die bei normalem Hochwasser nicht mehr untergehen.

Bleiben diese über einen längeren Zeitraum stabil, können sich Dünen entwickeln, auf denen sich dann erste Vegetation ansiedelt. Werden auch diese Hochsande nicht mehr von Sturmfluten abgeräumt, kann sich die Tier- und Pflanzenwelt weiter entwickeln – bis solche Inseln wie Memmert entstehen.

Die Insel wandert allmählich nach Osten

„Bis in die 1920er-Jahre wurde Memmert nur als eine Sandbank bezeichnet“, sagt Heyken. Von Vogelschutz war früher noch keine Rede: „Ende des 19. Jahrhunderts räumten Eiersammler regelmäßig die Gelege von Seeschwalben und Silbermöwen aus.“ Die Bewohner von Juist – und später die Kurgäste – gingen auf Memmert zur Vogeljagd.

Naturschützer beklagten grausame Zustände. Auf ihre Initiative wurde die Insel 1907 von Vogelschützern gepachtet und überwacht, im Folgejahr die erste Wärterhütte errichtet. Seit 1921 ist Memmert immer vom Frühjahr bis Herbst von einem Vogelwart bewohnt. Drei Jahre später wurde sie staatliches Naturschutzgebiet, seit 1986 gehört sie zur Schutzzone 1 im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer.

Der Himmel hat sich während der Exkursion verändert; schwarze Wolken wechseln nun mit Sonnenschein. Regentropfen fliegen in Böen waagerecht, dann wieder ist es trocken und ruhig. Das Meer zieht sich immer weiter zurück, das Tosen der See ist mehr zu spüren als zu hören.

Auf der Nordseeinsel Memmert: Enno Janßen, seit 2003 Vogelwart
Echter Friese: Enno Janßen ist seit 2003 Vogelwart
Quelle: picture alliance / dpa
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In der Nordsee ist ein seltsames Bauwerk auf Pfählen zu sehen, 250 Meter vor der Küste. „Das war das Haus einer früheren Wärterfamilie, bis 1970 wohnte sie dort – damals mitten in den Dünen“, sagt Jens Heyken. „Es gab sogar noch weiter westlich ein Haus, das der ersten Vogelwärter.“ Die Dünenkette im Westen ist bereits weitgehend zerstört. Das aktuelle Wärterhaus steht auf den Norddünen. Irgendwann könnte es demselben Schicksal zum Opfer fallen.

Die Insel aber bleibt vorerst bestehen. Allerdings wandert sie nach Osten: Was im Westen abgetragen wird, lagert sich im Osten wieder an. „Memmert ist rund 620 Hektar groß, das ist die Fläche, die bei mittlerem Tidehochwasser nicht mehr untergeht“, sagt Heyken.

Nur ein Drittel davon ist bewachsen, davon sind 150 Hektar sogar bei Springtide-Hochwasser nicht überflutet – das ist die zweimal im Monat auftretende Maximal-Flut. „Diese eineinhalb Quadratkilometer können ohne Überflutungsgefahr als Brutgebiet genutzt werden“, sagt der Experte und führt die Gruppe auf einem Pfad durch die Dünen. Ein Bussard segelt durch die Luft. Mannshohes Gebüsch säumt den Weg.

Memmert ist als Rastplatz für Zugvögel wichtig

Der Pfad endet auf der höchsten Düne. An die windabgewandte Seite duckt sich ein Reetdachhaus – das Zuhause auf Zeit für Enno Janßen; Vogelwart, Bewacher von Memmert, Inselchronist. Von der Düne hat man einen Rundblick über die Insel, Ferngläser werden herumgereicht.

Hier leben große Scharen von Gänsen und Enten, dazu Seeschwalben und Säbelschnäbler. Viele Vogelarten brüten hier und ziehen ihre Küken auf, während andere sich zur Zeit des Vogelzugs in riesigen Schwärmen einfinden.

„Memmert ist als Rast- und Ruheplatz von großer Bedeutung für die Zugvögel auf ihrem langen Weg vom Sommerquartier in der Arktis zum Überwintern nach Afrika“, sagt Janßen. „Im Watt finden sie hervorragende Nahrungsgründe.“ Ein Schwarm Knutts tanzt durch den Himmel und führt ein irres Schauspiel auf – es sieht aus, als übte ein einziger Organismus luftige Verrenkungen.

Brandgänse bauen ihre Nester in Kaninchenhöhlen
Brandgänse bauen ihre Nester in Kaninchenhöhlen
Quelle: Getty Images/imageBROKER RF

Rund 40 Arten brüten auf der Insel, neben der Küsten-, Fluss- und Brandseeschwalbe auch die vom Aussterben bedrohte Zwergseeschwalbe. „Brachvögel leben hier ebenfalls, außerdem Rotschenkel und Austernfischer. Herings- und Silbermöwen haben auf Memmert große Brutkolonien.“

Auch Greifvögel wie die Rohr- oder Kornweihe ziehen hier ihre Jungen groß, sogar die Sumpfohreule, eine der seltensten Brutvogelarten. „Die farbenprächtigen Brandgänse bauen ihre Nester in Kaninchenhöhlen, und eine Besonderheit ist der – eher an subtropische Gefilde erinnernde – Löffler, der hier vor 20 Jahren ebenfalls eine Heimat gefunden hat.“

Die Nordsee dröhnt, die Seehunde dösen

Mit der aufkommenden Flut ist Kapitän Eilers mit seinem Schiff zurückgekehrt. Endlich! So faszinierend es auf Memmert auch ist und so berauschend das Gefühl, weit weg von allem zu sein – die Einsamkeit ist fast erdrückend. Über die Leiter geht es zurück an Bord, starke Arme ziehen die Ausflügler hinauf.

Das Wasser läuft zwar schon eine Zeitlang wieder auf, doch hoch genug, um nach Juist zu kommen, ist es noch nicht. Gerhard Eilers steuert stattdessen nach Nordwest in Richtung offene See, zu den Sandbänken mit Seehunden darauf.

Ganz langsam schleicht die „Wappen von Juist“ vorbei, um die Tiere nicht zu stören. Helle Sandbänke vor dunklen Wolken, eine unberührte, grenzenlose Landschaft. Die Nordsee dröhnt, der Wind heult, die Seehunde dösen, spielen, schwimmen.

Seehund an der Nordsee
Lässt sich von den Besuchern nicht beeindrucken: ein junger Seehund auf einer Sandbank
Quelle: pa/WILDLIFE

Eilers wendet und fährt heimwärts. Doch irgendwo im Nirgendwo stoppt er erneut die Maschine. „Wir müssen auf mehr Hochwasser warten“, sagt er über den Lautsprecher und steuert sein Schiff an eine Sandbank, parkt es dort für die nächste Stunde. Auf dem Achterdeck kann man zusehen, wie diese wilde Welt wieder im Wasser versinkt. Ein schaurig-schönes Gefühl.

Und dann fliegt ein riesiger Greifvogel vorbei, der heute schon einmal über Memmert gekreist ist. Mächtig, majestätisch – ein Seeadler. Kurz darauf lässt der Käpt’n die Maschine wieder an, das Schiff fährt in die Dämmerung, Richtung Juist, Richtung Zivilisation. Nun sind sie wieder unter sich, der Seehund und der Seeadler.

Quelle: Infografik Die Welt

Tipps und Informationen

Anreise: Die Vogelschutzinsel Memmert darf nur im Rahmen von geführten Exkursionen betreten werden, die dieses Jahr im August und September sowie am 15. Oktober stattfinden. Insgesamt sind 14 Exkursionen geplant. Gestartet wird auf der autofreien Nachbarinsel Juist: Anreise mit der Fähre ab Norddeich Mole (reederei-frisia.de), gut erreichbar mit der Deutschen Bahn (bahn.de) oder dem Auto (Parkplätze vor Ort). Die Reederei hat auch einen Flugdienst. Die Bootsexkursionen nach Memmert mit der „Wappen von Juist“ (ab/bis Hafen Juist) dauern meist sechs bis sieben Stunden und kosten 35 Euro pro Person. Info und Anmeldung: nationalparkhaus-wattenmeer.de/juist

Was man beachten sollte: Termine und Teilnehmerplätze für Bootsausflüge nach Memmert sind limitiert und begehrt, man sollte früh reservieren. Die Vogelinsel ist nur bei ablaufendem Wasser erreichbar, sodass zur Zeit des Besuchs auf der Insel selbst nicht sehr viele Vögel zu beobachten sind – dafür aber auf der Fahrt dorthin: Vom Schiff aus sollte man die trockenfallenden Wattflächen im Auge behalten. Zwei Spektive und einige Ferngläser sind an Bord, ein eigenes mitzubringen schadet nie. Auf Memmert gibt es keine Anlegestelle, beim Ausstieg muss man durch knietiefes Wasser waten. Für die Fahrt müssen sich die Gäste selbst verpflegen, an Bord gibt es nur Getränke und Snacks. An warmen Tagen an Mückenschutzmittel denken. Die Fahrt nach Memmert ist wetterabhängig, es kann zu kurzfristigen Absagen oder verlängerten Fahrtzeiten kommen.

Tipp der Redaktion: Im Herbst finden in Niedersachsen die Zugvogeltage statt mit vielen weiteren Exkursionen: zugvogeltage.de

Weitere Infos: juist.de

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von der Kurverwaltung Juist. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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