Alle warten auf Elmar Brok. Eigentlich ein Running Gag. Fast 40 Jahre saß der Ostwestfale im EU-Parlament, und längst hat sich sein Hang zur Verspätung herumgesprochen. An diesem Montagabend ist es nicht selbst verschuldet, denn es liegt an der Bahn. Auch so ein Running Gag. Fast eine halbe Stunde läuft die Veranstaltung schon in der „Rotunde“ im Ruhrgebiet in Bochum – ganz früher mal eine Bergbauregion. Und „der Elmar“ ist noch nicht da.
In der backsteinrustikalen „Rotunde“ ist es ähnlich warm und spärlich beleuchtet wie einst in den Gängen unter Tage tausend Meter tief: Zechen-Feeling und Grönemeyer-Tinnitus im Ohr, seitdem man in Bochum angekommen ist, tief im Westen, wo die Sonne verstaubt. Der Gastgeber des Abends, Dennis Radtke, heimischer EU-Abgeordneter der CDU, grüßt gern mit „Glückauf“, so wie die Bergleute.
Endlich schlurft Brok herein. „Sonst wäre es nicht Elmar, wenn er pünktlich kommen würde“, frotzelt Radtke. Brok setzt sich unter Applaus von fast 200 Zuhörern auf ein rotes Samtsofa. Über ihm steht das Motto auf einem Plakat: „Ein Abend mit Legenden“. Neben ihm sitzt Baden-Württembergs früherer Ministerpräsident und EU-Kommissar Günther Oettinger und schräg gegenüber auf einem alten Sessel Hessens früherer Regierungschef und Wirtschaftsmann Roland Koch.
Es sind also die eher konservativeren Flügelspieler der CDU. „Legenden“ klingt für die drei früheren Spitzenpolitiker wie eine große Schmeichelei. Doch Koch durchbricht das gefällig und fragt mit selbstironischer Poesie in die Runde: „Warum tanzen diese alten Elefanten noch?“
Die Propaganda des Durchschnitts
Der Grund ist einfach: Die „Elefanten“ sollen der CDU im Ruhrgebiet etwas Schwung verleihen in einem eher lahmen EU-Wahlkampf. Am nächsten Sonntag wird abgestimmt, die Schlagwort- und Gesichtsplakate kleben und hängen allerorten, aber so richtig zündet es nicht. „Ein Wahlkampf, der so vor sich hin plätschert“, beklagt Radtke.
Europa sorgt eher für Demobilisierung. Wenn man aber Brok (78 Jahre), Oettinger (71) und Koch (66) die nächsten 120 Minuten zuhört, dann wäre ein Urnengang oberste Bürgerpflicht, gerade wegen Europa. Sie schwärmen vom Binnenmarkt und von der Freizügigkeit. Brok saß von 1980 bis 2019 im EU-Parlament und bekam aus nächster Nähe mit, wie Bürokratie und Richtlinien immer dichter wurden und aus der Verheißung Europa eine Ernüchterung wurde, wenn nicht sogar eine Enttäuschung für viele.
Sie erwähnen in den zwei Stunden nur wenige Male den Namen ihrer Spitzenkandidatin, einmal „Frau von der Leyen“ sonst nur „von der Leyen“. Die Union ist wahrlich nicht begeistert von ihrer Spitzenkandidatin, aber Ursula von der Leyen ist als Kommissionspräsidentin mit reichlich Macht ausgestattet und hat gute Aussichten, es wieder zu werden, das sorgt für Disziplin.
Brok, Oettinger und Koch sehen die EU als einen Zusammenschluss, in dem Pragmatismus und Kompromisse dominieren sollten. Europa sei in „kleinen Schritten“ entwickelt worden, und wahrscheinlich sei das die einzige Methode, sagt Koch.
Sie propagieren durchschnittliche Standards, auch im Umgang mit anderen Ländern.
„Klima-Höchststandards“ anderswo vorauszusetzen, würde „begriffen als Kolonialismus“, sagt Brok. „Wir sollten unsere Interessen pragmatisch verfolgen, dabei Werte einbeziehen, aber nicht maximieren. Wir müssen die Welt einfach nehmen, wie sie ist“, sagt Oettinger in seinem altbekannten schwäbischen Dialekt und setzt hinterher: „Wenn wir alles nach unseren Regeln haben wollen, dann wird Europa klein sein, wird die Welt woanders hingehen.“ Das geht vor allem gegen die Grünen, aber auch gegen die SPD und die Ampel insgesamt.
AfD, die „ökonomische Katastrophe für Deutschland“
Sie fordern eine stärkere europäische Zusammenarbeit in der Rüstungspolitik und in der Energiepolitik. Sie beklagen einen miserablen Umgang von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit dem Nachbarn Frankreich. Pragmatisch wollen sie mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihrer postfaschistischen Partei „Fratelli d’Italia“ umgehen. Brok hält eine Aufnahme in die EVP-Fraktion zwar für falsch, sieht aber in Meloni eine wichtige Unterstützerin für die Wahl von der Leyens zur Kommissionspräsidentin.
Oettinger sagt, dass Meloni sich im Europäischen Rat besser verhalte als erwartet. „Eine gewisse Offenheit“ sei notwendig, sagt Oettinger und warnt: „Wir sollten uns von Links nicht abschneiden lassen von konservativen Christdemokraten und als rechts Bezeichneten.“
Eine kategorische Abgrenzung ziehen die drei Gäste und Gastgeber hingegen zur AfD. Radtke sieht sogar eine „Brandmauer“ in Europa. „Die AfD will aus diesem Europa raus“, sagt Brok. Es gäbe dann keinen Binnenmarkt mehr – eine „ökonomische Katastrophe für Deutschland“ mit Massenarbeitslosigkeit und Zerstörung mittelständischer Strukturen.
Koch kritisiert namentlich den Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke. Höcke stehe nicht dafür, dass der Anstand gegenüber Menschen, der Respekt vor dem Nachbarland und eine starke Ökonomie gewahrt blieben. „Das ist radikal“, sagt Koch unter lautem Applaus. Er sieht einen „Kampf um die bürgerliche Mitte“.
Und er verlange auch von Kommunalpolitikern, „nicht mit Leuten zusammenzuarbeiten, die die Grenze zwischen Radikalität und Normalität verschieben“. Brok erwähnt das neue „Bündnis Sahra Wagenknecht“, die in ihren Ansichten über Europa und der Migration mit der AfD „deckungsgleich“ sei.
Irgendwann erinnert Radtke an die Abschiedsrede von Brok 2019 am Ende der Parlamentarier-Laufbahn. Es gehe darum, dass Europa „weltpolitikfähig“ werden müsse, habe Brok damals gesagt. In Bochum sprechen die Gäste darüber, dass die Beziehungen zu Afrika verbessert werden müssten, dass Entwicklungsländer längst aufgeholt hätten und dass die geplante weitere EU-Erweiterung vor allem auf ökonomischer Basis erfolgen solle.
Koch spricht von einer „wirtschaftlichen Union“. Das Prinzip der Einstimmigkeit sehen sie nicht mehr als idealen Weg für Entscheidungen in der EU. Insgesamt betont Koch: „Wir brauchen viele kleine Schritte.“