WELT: Herr Rosenthal, Sie sagten kürzlich, Hochschulen müssten Diskursräume sein, in denen sich Juden „ohne Wenn und Aber sicher fühlen können“. Wird dieser Anspruch in der Realität eingehalten?
Walter Rosenthal: Das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Wir kennen viele erschütternde Berichte jüdischer Studierender. Und hier sind alle Hochschulangehörigen aufgerufen, sich entschieden solidarisch zu zeigen. Als Hochschulrektorenkonferenz haben wir nach dem 7. Oktober den Terror der Hamas klar verurteilt, viele Hochschulen haben dies auch getan – eine Positionierung war aus meiner Sicht unbedingt notwendig.
Es gibt gleichzeitig an einigen Hochschulen organisierte Gruppen, die sehr lautstark abweichende Standpunkte zum Nahost-Konflikt vorbringen und in ihrer Kritik an israelischer Regierungspolitik jedes Maß verlieren, wenn sie alle Jüdinnen und Juden in Haftung nehmen, sich dabei schlicht antisemitisch äußern. Aber sie stehen nicht für die überwiegende Mehrheit.
WELT: Es gibt zahlreiche Berichte jüdischer Studierender, die sich bedroht fühlen, manche trauen sich nicht mehr in Kurse. Besonders an der Universität der Künste (UdK) und der Freien Universität in Berlin ist der Protest eskaliert. Wie haben Sie die Berichte von dort wahrgenommen?
Rosenthal: Die Berichte fand ich bestürzend, das waren wirkliche Extremfälle. Als HRK-Präsident kann ich das im Detail nicht weiter kommentieren: Aber ich finde, dass die Hochschulleitung jeweils sehr umsichtig, klar und deutlich aufgetreten ist. Als Hochschulen müssen wir darauf bestehen, dass friedlich, rational und wissenschaftlichen Standards genügend diskutiert wird.
WELT: UdK-Präsident Norbert Palz hatte sich nach dem Angriff der Hamas klar positioniert und sagte zu den Protesten, er habe in einen „Abgrund“ geschaut. Wie können sich Hochschulleitungen im alltäglichen Umgang mit dem Nahost-Konflikt positionieren?
Rosenthal: Ich muss einmal festhalten: Hochschulen haben kein allgemeinpolitisches Mandat. Sie müssen sich als Institutionen nicht grundsätzlich zu kriegerischen Auseinandersetzungen oder politischen Entwicklungen positionieren.
Etwas anderes ist es aus meiner Sicht, wenn der Wissenschaftsbetrieb oder Partnereinrichtungen betroffen sind, und dies war am 7. Oktober leider der Fall. Die Hochschulleitungen aus Israel haben mir von vielen Opfern aus der Studierendenschaft und unter den Beschäftigten berichtet, etwa 30 Prozent der Studierenden, der Lehrenden und Forschenden sind jetzt zum Militärdienst eingezogen. Der Terror der Hamas und der nachfolgende Krieg betreffen den Wissenschaftsbetrieb also ganz konkret. Dass sich Hochschulen nicht ständig politisch positionieren, heißt übrigens nicht, dass hier es keine Leitplanken gibt.
WELT: Zum Beispiel?
Rosenthal: Es gelten auf dem Campus gewisse, auch informelle Regeln wie wechselseitiger Respekt und wissenschaftliche Diskursgrundsätze, ob jetzt beim Thema Nahost-Konflikt oder den Klima-Protesten. Leitplanken sind auch die Hochschulgesetze und nicht zuletzt die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
WELT: Aber reichen der Verweis auf Gesetze und das Strafrecht denn aus, um den universitären Frieden zu wahren? Aussagen wie „Israel begeht in Gaza einen Genozid“ fallen bei Debatten in den Hörsälen häufig, stellen aber keinen Straftatbestand dar.
Rosenthal: Ich würde erwarten, dass sich eine Hochschulleitung zu solchen Aussagen klar positioniert. Juristisch mag es sich um eine noch zulässige Meinungsäußerung handeln, und bis zu einem gewissen Punkt muss man Diskurs und Diskussion zulassen. Die Grenze ist überschritten, wenn es zu Beleidigungen, Bedrohungen und Übergriffen etwa auf jüdische Studierende und Beschäftigte kommt oder wenn der Lehrbetrieb massiv gestört wird. Bei den Protestaktionen gegen jüdisches Leben bin ich sehr dafür, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, vom Hausrecht bis hin zur Exmatrikulation bei schwerwiegenden Vorgängen. Akademische Diskussionen können scharf geführt werden, müssen aber fair bleiben.
Ich habe die aufgeheizte Atmosphäre am eigenen Leib erfahren: Ich war bis Oktober noch Universitätspräsident in Jena und wurde nach einem eindeutigen Statement zum Angriff der Hamas auf Israel in Social Media stark attackiert. Da gab es keine Bereitschaft für Austausch mehr. In diese Richtung darf es sich nicht entwickeln.
WELT: Hochschulen sind klassischerweise Orte der Bildung und der geistigen Auseinandersetzung. Muss man ergänzen: zunehmend auch der politischen Agitation?
Rosenthal: Es gibt heute fast drei Millionen Studierende, das bedeutet sicher auch, dass die Diskussionen an Hochschulen vielstimmiger geworden sind. Meine These wäre aber, dass der Politisierungsgrad im Vergleich zu den Generationen etwa der 60er- und 70er-Jahre insgesamt trotzdem abgenommen hat. Hochschulen standen für längere Zeit nicht mehr im Fokus politischer Kämpfe.
Vielleicht ändert sich hier gerade wieder etwas – dann geht es aber um kleine, sehr lautstarke Gruppen, die ihre Interessen offensiv nach außen vertreten. Den hochschulischen Alltag prägen sie nicht. Ich sehe auch durchaus positive Aspekte einer wieder wachsenden Politisierung.
WELT: Welche denn?
Rosenthal: Die Studierenden haben beispielsweise im Bereich Nachhaltigkeit und Diversität einiges angeschoben, was uns als Hochschulen und der Gesellschaft insgesamt weiterhilft. Viele Hochschulen verstehen sich deshalb heute als Reallabore für nachhaltige Entwicklung. Wichtig finde ich, dass im Zuge einer politischen Positionierung gewisse Regeln eingehalten werden – dazu gehört Gewaltfreiheit und auch, andere Meinungen als nur die eigene zuzulassen. Daran hapert es heute manchmal, da sehe ich ein Problem.
WELT: Wie widersteht man denn dem Wunsch nach Sprechverboten und stärkt den wissenschaftlichen Diskurs?
Rosenthal: Indem man zunächst klar sagt: Einzelne, vielleicht missliebige Positionen dürfen in einer akademischen Debatte nicht ausgegrenzt werden. Sprechverbote wären ein absoluter Irrweg, gerade an einer Hochschule braucht es offenen Dialog. Man muss andere Auffassungen selbst dann dulden, wenn es wehtut. Natürlich müssen auch Meinungen argumentativ begründet werden können und sich der Kritik stellen.
Lassen Sie mich aber auch sagen: Ich glaube nicht, dass an deutschen Hochschulen eine Kultur der Sprechverbote, der „Cancel Culture“ herrscht. Man kann weiter seine Meinung offen sagen – auch wenn ich wahrnehme, dass dies manche Beobachter anders sehen.
WELT: Die aktuelle Generation an Studierenden verändert sicher auch die Hochschulen. Worauf müssen sich Universitäten neu einstellen, braucht es andere Sensibilitäten?
Rosenthal: Die Themen Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Diversität sind gegenwärtig sicher prägend für einen großen Teil der Studierendenschaft, diese Schwerpunkte verändern auch ein Stück weit das System. Grundsätzlich bleiben die Hochschulen aber primär ein Ort unabhängiger Wissenschaft und Forschung. Es wäre ein großes Missverständnis, Hochschulen als Bühnen zu sehen, von denen aus Politik gemacht wird.
Hochschulen sind auch keine Auftragnehmer der Politik. Sie stehen mitten in der Gesellschaft, brauchen aber eine große innere und äußere Freiheit, um selbstbestimmt forschen, lehren und Zukunftsentwürfe entwickeln zu können. Unter Umständen müssen sich die Verantwortlichen auch mal so positionieren, dass es einer lautstarken Minderheit nicht gefällt.