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Warum britische Politikerinnen reihenweise zurücktreten

Korrespondentin in Washington
Die konservative Abgeordnete Anna Soubry wird von Brexit-Befürwortern attackiert. Trotz Todesdrohungen will sie in der Politik bleiben, viele ihrer Kolleginnen hingegen ziehen sich aus der Politik zurück Die konservative Abgeordnete Anna Soubry wird von Brexit-Befürwortern attackiert. Trotz Todesdrohungen will sie in der Politik bleiben, viele ihrer Kolleginnen hingegen ziehen sich aus der Politik zurück
Die konservative Abgeordnete Anna Soubry wird von Brexit-Befürwortern attackiert. Viele ihrer Kolleginnen hingegen ziehen sich aus der Politik zurück
Quelle: Rob Welham/CAMERA PRESS/laif
Mobbing, Beleidigungen, Anfeindungen gegen Familienmitglieder: Der Wahlkampf in Großbritannien eskaliert. Viele weibliche Spitzenkräfte wollen das nicht länger ertragen. Das wird Konsequenzen für das künftige britische Parlament haben.

Anna Soubry ist ein Charakter, den der Brite als „tough cooky“ beschreibt. Seit fast zehn Jahren ist die 62-Jährige Abgeordnete. Aber was die Rechtsanwältin in den vergangenen Monaten erlebt hat, setzt ihr zu. „Meine 84-jährige Mutter hat einen Drohbrief bekommen mit den Worten ,Wir wissen, wo du wohnst. Pass auf dich auf!‘“

Bei Soubrys Lebensgefährten ging ein Schreiben ein mit einer fingierten Todesanzeige für die Abgeordnete und dem Kommentar „Du bist als Nächstes dran“. Die zweifache Mutter trägt zur Sicherheit jetzt immer feste Schuhe, „in denen ich schnell laufen kann“.

Soubry wird trotzdem bei der Neuwahl am 12. Dezember antreten. Anders als eine ganze Reihe ihrer Weggefährtinnen. London erlebte in der vergangenen Woche eine Welle von Rücktritten hochkarätiger Politikerinnen, die von Todesdrohungen gegen sich und ihre Familien, Anfeindungen auf offener Straße und generell vom vergifteten Klima im britischen Politikbetrieb genug haben. Die Konservative Amber Rudd ist dabei, ehemalige Innenministerin. Nicky Morgan, derzeit noch Kulturministerin. Oder Heidi Allen, vor Kurzem ebenfalls noch eine Tory-Spitzenkraft.

Die britische Abgeordnete Anna Soubry
Die britische Abgeordnete Anna Soubry
Quelle: AFP/ISABEL INFANTES

Personalien, die Vorzeichen sind für den härtesten Wahlkampf, den das Vereinigte Königreich je erlebt hat. Das dreieinhalbjährige Brexit-Drama hat die Stimmung aufgeheizt. Im Unterhaus, aber auch auf der Straße stehen sich die Lager mit wachsend aggressivem Ton gegenüber.

Zugleich messen sich bei der Advent-Wahl zwei Rivalen, die Extreme vertreten. Auf der einen Seite Boris Johnson, Pate des EU-Ausstiegs und Advokat eines „freien, großartigen Großbritanniens“. Auf der anderen Jeremy Corbyn, Chef der Labour-Partei, der bei seinem Wahlkampfauftakt diese Woche den Klassenkampf versprach gegen die „qua Geburt herrschenden Konservativen und die Privilegierten“. Das Votum sei eine Chance, „die es nur jede Generation einmal gibt, unser Land vollkommen zu verändern“.

Eine Abstimmung über das gesamte politische System

In der Tat könnte diese Wahl das Königreich auf lange Zeit verändern. Ihr Ausgang wird darüber bestimmen, ob der EU-Ausstieg wirklich kommt. Siegt Johnson und bekommt endlich eine Mehrheit im Unterhaus, wird er seinem Mitte Oktober in Brüssel vereinbarten Deal sofort den parlamentarischen Segen verschaffen wollen. Ist aber Corbyn der Sieger, will die Labour-Partei einen neuen Deal mit der EU verhandeln und diesen der Nation in einem weiteren Referendum vorlegen.

Wie und ob der Brexit kommt, wird zugleich Folgen für die Union des Königreichs haben. Die schottischen Nationalisten unter ihrer Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon scharren mit den Hufen. Sie wollen schon 2020 ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum abhalten.

Entweder, weil Johnson sie gegen ihren Willen aus der EU zwingt. Oder weil sie Corbyn, der laut Umfragen keine Mehrheit bekommen dürfte, in die Downing Street helfen und im Gegenzug das Plebiszit über Schottlands Souveränität bekommen, dem nur ein britischer Premier stattgeben kann.

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Die Wahl ist aber auch eine Abstimmung über das gesamte politische System. Die Jahrhunderte alte britische Ordnung, nach der sich eine konservative und eine sozialdemokratische Volkspartei an der Macht abwechseln, steht vor dem Ende.

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Wie in anderen europäischen Ländern ist das bisher gewohnte Bild fragmentiert, kleine oder regionale Parteien werden zu Königsmachern. Die alte Kampagnenweisheit, „hier würden sie sogar ein Schaf wählen, wenn es ein Fähnchen von Tory/Labour im Fell stecken hätte“, sie gilt nicht mehr.

Mehr als die Hälfte der einstigen Stammwähler ist bei Urnengängen seit 2010 zu Wechselwählern geworden. Viele Beobachter sagen daher dasselbe Szenario wie schon 2017 voraus, als Johnsons Vorgängerin Theresa May die Wahl verlor und mit ihr die Mehrheit im Unterhaus.

„Ich bin erschöpft von der Invasion meines Privatlebens“

Der Rest ist das bereits bekannte Brexit-Drama, das auch nach dem 12. Dezember durch ein „hung parliament“ ohne klare Mehrheit weitergehen könnte. Was die Atmosphäre im Land noch mehr vergiften würde. Schon jetzt belegt die Statistik, dass die höflichen Briten mit ihrer einst gesitteten Debattenkultur zunehmend die Contenance verlieren.

In den ersten vier Monaten dieses Jahres stieg die Zahl der von der Polizei registrierten Angriffe auf Politiker um 90 Prozent. „Ich bin erschöpft von der Invasion meines Privatlebens, von der Garstigkeit und den Einschüchterungen, die alltäglich geworden sind“, erklärte die ehemalige Tory-Abgeordnete Heidi Allen vor wenigen Tagen ihren Rückzug.

„Niemand, der diesen Job macht, sollte all dem ausgesetzt sein – Drohungen, aggressiven E-Mails, auf der Straße angeschrien, in den sozialen Medien beleidigt zu werden. Einen Panikalarm zu Hause einbauen zu müssen.“

Allen wie auch ihre Parlamentskolleginnen Soubry und Rudd haben den Hass von Brexit-Anhängern zu spüren bekommen, weil sie den radikalen Schnitt mit dem Kontinent ablehnen. Aber die Angriffe gelten genauso Brexit-Verfechtern, die zum Ziel von cholerischen Europhilen werden.

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Als Johnsons Fraktionschef Jacob Rees-Mogg jüngst mit seinem zehnjährigen Sohn Peter das Unterhaus verließ, flankierten die beiden zum Schutz ein Dutzend Polizisten, während Brexit-Gegner sie brüllend als „Nazis“ und „Verräter“ beschimpften.

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Zu Rees-Moggs Freude wird das Lager der Brexit-Hardliner im kommenden Parlament wachsen. Die Moderaten in der Tory-Fraktion weichen – und werden durch eiserne Europagegner ersetzt.

Denn Johnson steht unter enormem Druck der Brexit Party von Nigel Farage, der die Tories in umkämpften Wahlkreisen herausfordern will. „Ex-Premier David Cameron hat die Tories in die politische Mitte gerückt. Diese Wahl bringt sie wieder zurück an den rechten Rand“, sagt Sunder Katwala, Chef der Denkfabrik British Future.

Folge der aufgeladenen Atmosphäre in Großbritannien sei es, so Katwala, dass nicht nur weniger Frauen im nächsten Parlament sitzen werden, sondern zugleich die ethnische und kulturelle Vielfalt abnimmt. Auf Labour-Seite sind es die jüdischen Abgeordneten, über denen seit Amtsantritt von Jeremy Corbyn 2015 eine antisemitische Hasswelle hereingebrochen ist.

Johnson und Corbyn zündeln bei jeder Gelegenheit

Populäre Politikerinnen wie Luciana Berger haben die Partei verlassen, nachdem Corbyn keine Anzeichen machte, den aus der eigenen Mitgliedschaft kommenden Todes- und Vergewaltigungsdrohungen gegen seine Fraktionskollegin ein Ende zu machen.

Der geplante Mord an der Londoner Labour-Parlamentariern Rosie Cooper durch einen englischen Neonazi konnte nur knapp verhindert werden. Sie hätte die zweite ermordete Labour-Politikerin sein können, nachdem ein durch rassistische Internetseiten aufgehetzter Mann im Juni 2016 Jo Cox erschoss. Mehr als ein halbes Dutzend Kriminelle sind wegen politisch motivierter Angriffe auf Politiker in den vergangenen drei Jahren verurteilt worden.

Johnson und sein Konkurrent Corbyn verurteilen alle Straftaten einmütig. Trotzdem zündeln sie bei jeder politisch günstigen Gelegenheit. Weshalb sie jetzt eine Warnung bekamen von Erzbischof Justin Welby, Vorsitzender der Anglikanischen Kirche. „In unsicheren Zeiten wie diesen reicht bereits eine kleine Menge Benzin, um eine große Gefahr zu sein.“

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Quelle: WELT AM SONNTAG

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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