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Literatur Politiker Walther Rathenau

Der Mann, der den Deutschen mehr Seele empfahl

ARCHIV - Walther Rathenau, ehemaliger deutscher Außenminister (undatiertes Archivfoto). In der Biografie «Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867-1922» gelingt Shulamit Volkov ein einfühlsames Porträt eines Politikers, der bis heute fasziniert und irritiert. Foto: dpa (zu dpa-Literaturdienst vom 27.11.2012) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit ARCHIV - Walther Rathenau, ehemaliger deutscher Außenminister (undatiertes Archivfoto). In der Biografie «Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867-1922» gelingt Shulamit Volkov ein einfühlsames Porträt eines Politikers, der bis heute fasziniert und irritiert. Foto: dpa (zu dpa-Literaturdienst vom 27.11.2012) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Walther Rathenau, Jahrgang 1867, war AEG-Manager, hoher Beamter im Kriegsministerium und zuletzt Außenminister. Er wurde 1922 ermordet
Quelle: picture alliance/dpa
Globalisierung und Überbevölkerung bedrohen die Welt – fand Politiker Walther Rathenau schon in der Weimarer Republik. Im Buch „Von kommenden Dingen“ erklärte er auch, was die Lösung wäre: mehr Seele.

Am Nachmittag des 31. Juli 1916 sitzt Walther Rathenau an seinem Schreibtisch im Schloss Freienwalde. Die ehemalige Sommerresidenz der Königin Luise hat er aus Kronbesitz erworben und im klassisch-preußischen Stil restauriert. Über die Baumwipfel vor dem Fenster hinweg blickt Rathenau „in die farbige Ferne des Bruchs, bläuliche Wiesen, weißblonde Felder, silberne Hügelstreifen am Himmelsrand“.

Erntezeit – zwei Jahre zuvor ist Europa in den Ersten Weltkrieg getaumelt: „Draußen, an den blutenden Grenzen in Ost und West erlahmt abermals, so heißt es, der tolle feindliche Angriff; dies war der letzte, dann kommt die Einsicht und der Friede“. Rathenau denkt an die englisch-französische Offensive, die vor einem Monat begonnen hat. Fünf Monate später erlahmt die Schlacht an der Somme, ohne dass eine Seite Vorteil daraus gezogen hat, mehr als eine Million Soldaten sind getötet oder verwundet worden. Und der Friede kommt nicht, stattdessen dauert der Krieg noch zwei Jahre und fordert weitere Millionen an Opfern.

Wie eine Vignette hat Rathenau dieses Stück persönlicher Erinnerung in sein Buch „Von kommenden Dingen“ eingefügt, das 1917 erscheint, also vor rund 100 Jahren. Bereits davor hatte der als Naturwissenschaftler ausgebildete Industrielle und Konzernlenker seine Weltanschauung und seine Zukunftsprophetie formuliert. „Zur Kritik der Zeit“ (1912) und „Zur Mechanik des Geistes“ (1913) hießen die Traktate, in denen Rathenau die unentrinnbare Mechanisierung der Welt beschrieb und der Menschheit als Trost und Rettung die „Reaktivierung des Seelischen“ verordnete.

Gedankenarbeit statt Planung

Den Weltkrieg erlebte Rathenau nicht als Beobachter, sondern als Handelnder – an der Heimatfront. Als Leiter der im preußischen Kriegsministerium auf seine Anregung eingerichteten Kriegsrohstoffabteilung (K.R.A) war er für die Beschaffung, Verwaltung und Verteilung der kriegswichtigen Rohstoffe zuständig – eine Aufgabe, die durch die englische Seeblockade erheblich erschwert wurde. Zwei Wochen nach Kriegsausbruch auf diesen Posten berufen, wurde Rathenau bereits im Januar 1915 wieder abgelöst. Ein Gerücht besagte, Rathenau sei freiwillig aus dem Ministerium geschieden – um „Von kommenden Dingen“ schreiben zu können. Es war ihm wichtig, die Leser des Buches an seine kriegswichtige Tätigkeit zu erinnern; mit demonstrativer Bescheidenheit schrieb Rathenau, im Ministerium habe er versucht „durch Gedankenarbeit die Wirkung der Meereskettung brechen zu helfen“.

A scene in one of the German trenches in front of Guillemont, near Albert, during the Battle of the Somme. It shows the havoc wrought by the British bombardment, with German dead visible in the photograph. Guillemont was captured by the British in late September, 1916. |
Die Realität des Krieges: deutsche Gefallene in einem Schützengraben nahe der Somme
Quelle: dpa / empics

„Gedankenarbeit“ statt „Planung“, „Meereskettung“ statt „Seeblockade“ – Rathenau nutzte ein überschwängliches Vokabular, um seinem Engagement einen schicksalhaften Anstrich zu verleihen. Es sind vor allem drei Aktivitäten, durch die Rathenau der Nachwelt in Erinnerung blieb: seine Tätigkeit in der vom Vater Emil gegründeten AEG und die damit verbundene Einflussnahme auf die Wirtschaftspolitik des Reiches; seine energische Leitung der Kriegsrohstoffabteilung; und sein späteres Wirken als Außenminister.

1922 schloss Rathenau mit Sowjetrussland den Vertrag von Rapallo, der die außenpolitische Isolation Deutschlands beendete. Im gleichen Jahr machte seine Ermordung durch Rechtsradikale aus Rathenau einen Märtyrer der frühen Weimarer Republik.

Er verstand sich selbst als Dichter

Walther Rathenau war ein Mann so vieler Eigenschaften, dass es einer sich der Realität anschmiegenden, sie zugleich überhöhenden Fiktion bedurfte, um ihn zu verstehen. Dies gelang Robert Musil, der im „Mann ohne Eigenschaften“ Rathenau als Dr. Paul Arnheim porträtierte: „Er war berüchtigt dafür, dass er in Verwaltungsratssitzungen die Dichter zitierte und darauf bestand, dass die Wirtschaft etwas sei, das man von den anderen menschlichen Tätigkeiten nicht absondern könne und nur im großen Zusammenhang aller Fragen des nationalen, des geistigen, ja selbst des innerlichsten Lebens behandeln dürfe.“

Rathenau hat nicht nur die Dichter zitiert, im Grunde genommen hat er sich selbst als Dichter verstanden, der in der Tradition deutscher Kulturüberhöhung stets mit dem Seher in Verbindung gebracht wird. Nicht als Industrieller, nicht als Organisator kriegswichtiger Tätigkeiten, nicht als Politiker hat Rathenau seinem eigenen Selbstverständnis nach in die Zukunft gewirkt, sondern als Autor von Schriften, die beanspruchten, tabulose Gegenwartsanalyse mit kühner Prophetie zu verbinden. Dazu gehört, vor 100 Jahren mitten im Ersten Weltkrieg publiziert, „Von kommenden Dingen“.

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Ausgangspunkt der Überlegungen von Rathenau ist die Demografie: Eine „Volksverdichtung ohne Beispiel“ kennzeichnet die Gegenwartszivilisation, die „zehnfach übervölkerte Menschheit“ verlangt nach einer neuen Ordnung der Wirtschaft und des Zusammenlebens. Diese Ordnung nennt Rathenau „Mechanisierung“, und wenn er ihre Universalität und Zwangsläufigkeit beschreibt, assoziiert der heutige Leser damit Merkmale der Globalisierung: „Kein Gebiet der Erde ist unerschließbar, keine materielle Aufgabe undurchführbar, jedes Erdengut ist erschwinglich, kein Gedanke bleibt verheimlicht, jedes Unternehmen kann Prüfung und Verwirklichung fordern; die Menschheit ist, soweit materielles Schaffen reicht, zu einem fast vollendeten Organismus erwachsen.“

Ein neuer Seelenhaushalt

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Die Mechanisierung, ein „dumpfer Naturvorgang“, ist unausweichlich, und Rathenau verspottet „großstadtmüde Einsiedler“, die glauben, „mit einem guten Buch, einfachem Hausrat und einer Laute“ in der „Einsamkeit schöner Gebirge“ der Mechanisierung entfliehen zu können.

Das Stadium der Mechanisierung lässt sich nicht auf große Einzelursachen wie den Kapitalismus oder den Calvinismus zurückführen. Damit wird beständig nur „ein Wunder durch das andere erklärt“, und die Illusion wächst, auf die dramatischen Weltveränderungen mit einfachem Zugriff reagieren zu können. Gefragt ist vielmehr die Arbeit an einem neuen Seelenhaushalt: „Der heiße Drang der Seele besteht; und mehr noch, er ist von allem Erleben das Realste. Wage es, ihn und nicht das erdacht Absolute zur temporären Achse unseres Erlebens zu wählen, so gewinnt das Dasein seinen Sinn zurück.“ Zumindest ein Satz dieser Art – von ihm finden sich Dutzende im Buch – musste zitiert werden: Er steht für Passagen, die wohl schon vor 100 Jahren viele Leser der „Kommenden Dinge“ ratlos machten.

Aber das Buch ist mehr als eine „Andacht zum Transzendenten“, wie Rathenau es nannte. Es ist eine eindrucksvolle Beschreibung und Kritik der Globalisierung mit handfesten Vorschlägen, die Möglichkeit „eines leidlich reibungslosen Zusammenlebens“ auf der Erde aufrechtzuerhalten. Auch wenn Rathenau es zum Ziel seines Buches erklärte, „den dogmatischen Sozialismus“ ins Herz zu treffen, näherte er sich mit vielen Reformvorschlägen staatssozialistischen Ideen; vermutlich wurde auch Lenin von seinem Buch beeindruckt, das im Jahr der Oktoberrevolution erschien.

„Von kommenden Dingen“ war der passende Titel für ein Buch, das den Anspruch erhob, die Zukunft vorzudenken. Der Autor entwarf eine Vision: „Ein neues Reich sozialer Freiheit auf der Grundlage gerechteren Verbrauchsanspruchs, gleichmäßigerer Besitzverteilung und kräftigeren Staatswohlstands“ – und verkoppelte eine „Wirtschaftsform des ausgeglichenen Besitzes“ mit einer autoritären Herrschaftsstruktur. Rathenau bekannte sich zum monarchischen Gedanken: An der Spitze staatlicher Macht sollte „ein Geweihter, nicht der Arrivierte einer glücklichen Karriere“ stehen. Auch in Zukunft würde den Herrscher ein „hingebungsvolles Unterschichten- und Untertanenbewusstsein“ legitimieren, in dem sich ein „Massengeist“ ausdrückt, „der mit unverbrüchlichem Vertrauen jedem autorisierten Führer folgt“.

Der Wunsch nach dem „Geweihten“ und der ihm hörige „Massengeist“ überlebten in der Weimarer Republik. Zu den „kommenden Dingen“ gehörte die Diktatur.

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