Ein schlaues Sprichwort besagt, dass sich „alles im Leben um Sex dreht; nur beim Sex dreht sich alles um Macht“. Demnach wäre Macht der unbewegte Beweggrund sämtlicher menschlicher Regungen und also noch die unscheinbarste Handlung eine Ableitung davon.
Wie alle monokausalen Theorien des Soziallebens hat diese den Nachteil, dass sie nicht stimmt. Dafür ist die Realität dann doch zu verwickelt. Zugleich hat sie aber den Vorteil, eine Menge von dem, worin wir täglich verstrickt sind, gar nicht so schlecht zu erklären. Das klingt paradox, ist es aber gar nicht. Man kann es sich ungefähr vorstellen wie mit Newtons und Einsteins Gravitationstheorien. Newton erklärt hervorragend, wie ein Apfel vom Baum fällt. Eine Rakete, die, der Newton’schen Formel folgend, zum Mars flöge, würde hingegen irgendwo im Nirgendwo landen. Im kosmischen Maßstab, wo es auf Feinheiten ankommt, braucht man schon Einsteins Relativitätstheorie. Die hat den Vorteil, zu stimmen, und dafür den Nachteil, irre kompliziert zu sein.
Womit wir bei Giorgos Lanthimos wären. Unter den Filmregisseuren gehört der weirde Grieche – Greek Weird Wave heißt die Kunstrichtung, deren berühmtester Vertreter Lanthimos ist – eindeutig dem Typ Newton an. Seit seinen Anfängen vor rund 20 Jahren betrachtet er den Menschen durch seine Kamera wie durch ein Mikroskop – und stellt dabei immer auf einen einzigen Aspekt scharf: die Macht und ihre Verhältnisse. Es geht ihm darum, die gegenseitigen Abhängigkeiten und Powerdynamiken zwischen Freunden, Kollegen, Ehepartnern und so weiter zu erforschen. Dabei ist Lanthimos nicht gerade zimperlich. In „Dogtooth“ (2009) brach er etwa das Inzesttabu, aber auch Ritualmord unter Familienangehörigen ist nichts, was sich in seinem Werk rar machen würde. Er dreht gewohnheitsmäßig bizarre Parabeln, als hätte er zwei Teile Kafka mit einem Teil Buñuel gemischt – „Der Prozess“ um das „Gespenst der Freiheit“, so könnte man den ersten Teil seines neuen Films zusammenfassen.
Bevor wir dazu kommen, ein Wort zu „The Favourite“ und „Poor Things“. Diese beiden Filme, von 2018 beziehungsweise 2023, bescherten dem Regisseur den internationalen Durchbruch, inklusive allerlei Oscars und der ergebenen Loyalität von Emma Stone. Auch im neuen Film ist die Schauspielerin dabei, früher hätte man sie mittlerweile als Lanthimos’ Muse bezeichnet. Das geht heute nicht mehr so leicht. Erst müsste man überlegen, ob das Konzept der Muse überhaupt mit dem Feminismus vereinbar ist. Interessanterweise fragten sich die Zuschauer und Kritiker genau das Gleiche über „Poor Things“: War diese Self-Empowerment-Reise einer Frankenstein-Frau durch ein abwechselnd schwarz-weißes und vor Farbpracht explodierendes Steam-Punk-Europa eine feministische Großtat? Oder aber übelster „male gaze“, wie man in der einschlägigen Theorie einen unterschwelligen Sexismus nennt, der mit dem Blickwinkel des typischerweise männlichen, heterosexuellen Regisseurs erklärt wird?
Lanthimos selbst äußerte sich zu der Diskussion nicht. Eine amerikanische Kollegin hat für sein Schweigen das schöne Bild gefunden, es wirke so wie das Zögern eines Mannes, der von einer Frau als ihr Freund vorgestellt wird, während er doch nur locker daten wollte. Ja, aller Wahrscheinlichkeit nach ist Lanthimos der Feminismus im engeren Sinne wurscht, insofern er seine eigenen, perfideren Machtstudien durchkreuzt. Lanthimos sieht uns alle als arme zappelnde Würstchen, ganz unabhängig vom Geschlecht.
„The Favourite“ und „Poor Things“ hatten jede Menge Schauwert und sogar ein versöhnliches Ende, was ihre Popularität erklärt, im Nachhinein betrachtet aber eher als Unfall verbucht werden muss. Das Drehbuch stammte in beiden Fällen von Tony McNamara. Die früheren Filme, darunter „The Lobster“ (2009) und „The Killing of a Sacred Deer“, hatte Lanthimos selbst geschrieben, assistiert von seinem Landsmann Efthimis Filippou. Hier haben wir es sozusagen mit dem „echten“ Lanthimos zu tun – schroff bis zur Gehässigkeit, kühl bis zur Eiseskälte.
Die Strapazen lohnen
Es ist ein unzugängliches Kino, das zwar Fans hat, aber eher die von Lars von Trier als die von Sofia Coppola oder Wes Anderson. Der neue Film, „Kinds of Kindness“, gehört dieser Gruppe an. Er ist von einer derartigen Feindseligkeit, dass es schon fast lustig ist – eine klare Absage Lanthimos’ an die Umarmung durch den Mainstream. Diese kleine Einordnung soll schon fast reichen. Wenn man zu viel verrate, nähme man den Großteil der Spannung. Denn wieder einmal besteht ein großer Reiz darin, die verrückten Welten zusammenzupuzzeln, die sich Lanthimos ausgedacht hat. In drei Episoden begegnen wir dem gleichen Cast in verschiedenen Rollen: Margaret Qualley, Joe Alwyn, Hong Chau, Willem Dafoe, Emma Stone und Jesse Plemons. Letzter bekam für seine Darbietungen den Schauspielerpreis in Cannes. Hochverdient übrigens. Woran man schon sieht, dass es durchaus lohnt, sich auf die Strapazen einzulassen.
In der ersten Geschichte, untermalt von den lasziv-bedrohlichen Klängen von „Sweet Dreams“, begleiten wir einen Mann, dem sein Chef jegliche Entscheidung diktiert – sogar, was er zum Frühstück essen und wie oft er mit seiner Frau schlafen soll. Selbst die Frau hat er sich nicht aussuchen dürfen. Klingt eher ungut. Lanthimos sagt nun aber: Was, wenn die totale Unterwerfung die höchste Form von Glück wäre? Kennt man aus dem Faschismus. Und tatsächlich begegnen wir im Verlauf des Films einer totalitären Sex-Sekte, deren Mitglieder, wenn sie nicht gerade das Badewasser des Gurus saufen, auf der Suche nach einem neuen Lazarus sind. Zwischendurch haben wir befremdet einem Mann dabei zugesehen, wie er sich allmählich in einen Kannibalen verwandelte, nur um zu beweisen, dass seine Frau in Wahrheit eine Außerirdische ist. Vermutlich reicht dieser kleine Abriss, um zu entscheiden, ob der Film etwas für Sie sein könnte. Sie werden mit Sicherheit richtig liegen.