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Kultur Filmfestspiele Venedig

Requiem für eine Kunstform

Chefkorrespondent Feuilleton
Kindskopf: Emma Stone neben Mark Ruffalo in „Poor Things“ Kindskopf: Emma Stone neben Mark Ruffalo in „Poor Things“
Kindskopf: Emma Stone neben Mark Ruffalo in „Poor Things“
Quelle: dpa
In Venedig enden die Filmfestspiele. David Fincher und Nicolas Winding Refn beklagen düster das Ende des Kinos – es sei „vom Algorithmus verweht“. Der Goldene Löwe geht indes an „Poor Things“, das auf die Untergangsstimmung pfeift. Sein Schöpfer Yorgos Lanthimos vertraut ganz auf die Kraft der Weiblichkeit.

Die 80. Ausgabe des Filmfestivals von Venedig stand im Zeichen müder alter Männer und junger Auftragskiller. Woody Allen, Roman Polanski, Luc Besson und Michael Mann trafen auf Michael Fassbenders Anglerhut tragenden Hitman in David Finchers „The Killer“, Harmony Korines Infrarot-Assassinen in „Aggro Dr1ft“ und Richard Linklaters Philosophie-Professor auf mörderischen Abwegen in „Hit Man“. Zufall?

Vielleicht hätten Sherlock Holmes oder Hercule Poirot Klarheit schaffen können. Leider blieben die Schnüffler dem Lido ebenso fern wie die meisten Stars, die wegen des Streiks der Hollywood-Schauspieler und -Drehbuchautoren irgendeinem öden Netflix-Binge-Watching auf dem heimischen Sofa den Vorzug vor dem roten Teppich gaben. Besonders um Poirot war es schade. In seinem neuesten Abenteuer namens „A Haunting in Venice“, dem dritten Agatha-Christie-Spektakel in der Regie von Kenneth Branagh, das demnächst in die Kinos kommt, diniert Poirot nämlich so hoch über den pittoresken Dächern der Lagunenstadt, dass er das Gewusel um den Biennale-Palast, erbaut noch im Auftrag Mussolinis, hervorragend hätte verfolgen können.

Nur fünf Regisseurinnen im Wettbewerb versus knapp 20 Männer ermittelte in Ermanglung der Detektive die feministische Branchenpresse verschnupft. Festspielpräsident Alberto Barbera (73) ließ es damit nicht genug sein. Er programmierte auch noch eine unverhohlene Faschismus-Verharmlosung als Eröffnungsfilm. Edoardo De Angelis’ „Comandante“ ist per se nicht schlecht, hat in seinen besten Momenten etwas von „Das Boot“. Aber zu seinem Unglück plumpst er in eine Zeit, in der in Italien eine Partei das Sagen hat, in deren Logo die ewige Flamme des Duce unbeirrt weiterglimmt. Da jemanden, der in der Realität im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Franquisten gekämpft hat und im Film ein von Mussolini ausgesandtes U-Boot befehligt, als aufrechten Anti-Faschisten auszugeben, dazu gehört schon so viel Chuzpe, dass man allmählich versteht, was manche Leute mit toxischer Männlichkeit meinen.

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Den Vogel schoss der 90-jährige Roman Polanski ab. Er schickte mit „The Palace“ einen biederen Schwank ins Rennen, in dem Mickey Rourke mit allerlei älteren Damen um das groteskeste Plastic-Surgery-Gesicht wetteifert und die armen Deutschen Oliver Masucci und Milan Peschel verzagte Miene zum unlustigen Spiel machen. John Cleese (83) muss am Ende die Luft aus dem Penis gelassen werden, kein Scherz. Angeblich hatte Barbera Polanski noch durch die Blume mitgeteilt, dass sein Film „nicht gänzlich aufgehe“, was einen Sonderpreis als Understatement des Jahres verdient hätte. Um diesen cineastischen Totalschaden nicht einzuladen, braucht es keine Cancel Culture. Ein wenig Geschmack täte es auch.

Während draußen die Klimawandel-Sonne erwartungsgemäß unerbittlich auf alles strahlte, was nicht bei drei in der Sala Grande war, trugen selbst die berühmteren Regisseure Leichenbittermiene zur Schau. David Fincher („Sieben“, „Fight Club“) bekommt für seine Art-House-Blockbuster kein Geld mehr von den großen Studios, sodass er schon seit Längerem unter die Fittiche von Netflix gekrochen ist. Glaubt man seinem Kollegen Linklater („Before Sunrise“, „Boyhood“), ist das aber nur ein Spurwechsel vom Regen in die Traufe. Im Interview mit dem Branchenmagazin „Hollywood Reporter“ sagte er, die letzte „gute Ära des Filmemachens“ sei vorbei, „vom Winde verweht – oder vom Algorithmus“. „Drive“-Regisseur Nicolas Winding Refn kam für eine Masterclass vorbei, in der er ebenfalls Dampf abließ: Die Streamer seien „überfinanziert und von Geld und Kokain verseucht“. Die Entwertung des Films zu Content-Gewische sei „unglaublich traurig und erschreckend, denn die Kunst ist im Grunde das Einzige – neben Sex, Wasser und Glück, was uns existieren lässt“. Sex, Wasser und Glück – immerhin war er in Venedig am richtigen Ort, der ja auf seine eigene Weise mit dem Untergang kokettiert, wenn auch schon seit Jahrhunderten.

Harmony Korine, das einstige Wunderkind und Schöpfer von so verstrahlten Meisterwerken wie „Springbreakers“ und „Beach Bum“, teilt die Diagnose. Filme langweilten ihn heutzutage sämtlich zu Tode, erzählte er am Rande des Festivals. Er spiele lieber Playstation. Sein „Aggro Dr1ft“, komplett in Infrarot gedreht, hat auch mehr von einem Videospiel oder mindestens einem psychedelischen Musikvideo als einem Film im herkömmlichen oder jedem anderen Sinn. Ein machoider Killer (Jordi Mollà) stapft durch ein bunt pulsierendes Miami und redet sich Mut zu, um endlich ein Samuraischwerter schwingendes Riesenbaby in Unterhose zu erlegen, das Stripperinnen in Käfige sperrt und auf Flachdächern Kopulationsbewegungen macht, als wäre es Elvis Presley. Dazu ein hämmernder Soundtrack, den man überhaupt nur aushalten konnte, wenn man zufällig noise-cancelling Kopfhörer in der Tasche hatte.

Flucht und Fliegen: Szene aus Matteo Garrones „Io capitano“
Flucht und Fliegen: Szene aus Matteo Garrones „Io capitano“
Quelle: Greta De Lazzaris

Der echte Elvis – also die Figur, gespielt von Jacob Elordi – verzichtete derweil in Sofia Coppolas „Priscilla“ weitgehend auf Hüftschwünge, sowohl auf der Bühne als auch zu Hause in Graceland. Er hat die 14-jährige Priscilla (Cailee Spaeny) zwar erfolgreich dem spießigen Luftwaffenoffizierselternhaus abspenstig gemacht, aber nicht, um sich polanskimäßig an ihr zu vergehen, sondern bloß, um sie als Privatheilige im Schlafzimmerschrein aufzubewahren. Der King erweist sich in diesem sogenannten Biopic als noch spleeniger, als man ohnehin schon gedacht hat.

Tags zuvor war Adam Driver in der nächsten filmischen Hommage an eine berühmte Persönlichkeit so pompös wie hüftsteif durch Michael Manns „Ferrari“ stolziert, während im Hintergrund seine automobilen Kreationen unschuldige Zuschauer abräumten, dass man sich langsam fragte, was denn los war mit all diesen Männern. In Bradley Coopers „Maestro“ verstärkte sich der Eindruck noch. Statt auf die Musik, für die Leonard Bernstein bekannt ist, konzentriert sich der Film auf seine Homosexualität. Cooper dirigierte sich dabei selbst, was nicht immer eine gute Idee ist. Ein bisschen weniger Selbstberauschtheit hätte der Sache gut getan. Immerhin bekam Carey Mulligan so reichlich Gelegenheit, oscarreif zu leiden, auch wenn nicht ganz deutlich wurde, warum sie sich diesen Typen, der keine Gelegenheit auslässt, seine Studenten zu streicheln, überhaupt all die Jahre antut. Dann rafft sie der Krebs dahin, und Cooper kann ungestört im Studio 54 schwofen.

In der venezianischen Wirklichkeit machten sich die Partys rar, passend zur Schwermut der meisten Wettbewerbsfilme. Der einzige deutsche Beitrag des jungen Timm Kröger, „Die Theorie von allem“, folgt einem Nachwuchsphysiker zu einem Kongress in die Alpen. Verwundert betrachtet der Zuschauer allerlei übersinnliche oder vielleicht auch bloß quantenmechanische Vorgänge auf einem Zauberberg, in dem Hanns Zischler griesgrämig die Vorzüge des Rechnens beschwört und eine klavierspielerisch wie hellseherisch begabte Femme fatale sich erst rumkriegen lässt, dann aber überhaupt keine Lust mehr hat und in einem benachbarten Multiversum verschwindet. Der verliebte Jungphysiker raucht und säuft sich hernach zu Tode.

Zurück in die 50er: Rebecca Antonaci in „Finalemente l’alba“
Zurück in die 50er: Rebecca Antonaci in „Finalemente l’alba“
Quelle: Eduardo Castaldo
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Überhaupt wurde wahnsinnig viel geraucht, in praktisch jedem Film, es sei denn, er erzählte von einer Zeit, in der das Qualmen so unüblich war wie der Kartoffelanbau. Mads Mikkelsen starrt in „Bastarden“ von Nikolaj Arcel („Die Königin und der Leibarzt“) kalt in eine kalte Welt, die dänische Heide, die er kartoffelmäßig zu kolonisieren gedenkt. Dem seltsamen Plot zum Trotz ist das Ergebnis schmackhaft und nährstoffreich, eine Art Variation von „Spiel mir das Lied vom Tod“ als Smørrebrød-Western.

Nach weiteren Ausflügen in die 50er-Jahre, etwa die römische Filmstadt Cinecittà in „Finalemente l’alba“ von Saverio Costanzo, entdeckte das Festival auf der Zielgeraden noch die Politik, in Form der Flüchtlingskrise. Agnieszka Holland verursachte mit ihrem „Green Border“ um das Leid der im Niemandsland zwischen Belarus und Polen Gestrandeten den größten Skandal des Wettbewerbs, als Polens Justizminister, der den Film noch gar nicht gesehen hatte, giftete, es handle sich um umgekehrte Nazi-Propaganda. Ob er damit sagen wollte, dass er ein Nazi sei, stand in jenen Sternen, die in Matteo Garrones „Io capitano“ wunderschön über der Sahara prangen. Unten im Wüstensand liegen die Leichen jener, die auf dem schrecklichen Trek gen Europa auf der Strecke blieben. Egal, wie man selbst politisch zu dem vertrackten Problem der illegalen Migration steht, lohnt sich das Anschauen dieser beiden großen Filme unbedingt.

Sie bekamen dann auch verdient zwei Hauptpreise der Jury unter dem Vorsitz von Damien Chazelle („La La Land“, „Babylon“), Garrone den Silbernen Löwen für die beste Regie und Holland den Spezialpreis der Jury. Der Japaner Ryusuke Hamaguchi („Drive My Car“) wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, für sein stilles, poetisches Ökodrama „Evil Does Not Exist“, in dem der böse Kapitalismus ein Dorf zu kapern gedenkt, das bislang im Einklang mit der Natur lebt. Alles okay so weit.

Die Darstellerpreise waren hingegen eine Überraschung: Beste Schauspielerin wurde nicht Emma Stone, auf die alle gesetzt hatten, sondern die 25-jährige Cailee Spaeny für ihre Rolle in Sofia Coppolas „Priscilla“. Peter Sarsgaard gewann für seine Darstellung in Michel Francos „Memory“, ein Alzheimer-Rührstück, das so spät programmiert war, dass die meisten Fachbesucher bei seiner Premiere schon abgereist waren. Der Goldene Löwe ging indes zu Recht an den haushohen Favoriten „Poor Things“ des Griechen Yorgos Lanthimos („The Lobster“, „The Favorite“), eine surrealistisch-überdrehte Sci-Fi-Fabel einer weiblichen Emanzipation. Emma Stone, die den Film auf ihren schmalen Schultern trägt, ganz allein unter all den Männern, darf sich bei der Auszeichnung mitgemeint fühlen.

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