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Kultur Andreas Mühe

Das Gefühl von Vernichtung in Plüsch

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Installation von (und mit) Andreas Mühe im Kunsthaus Dahlem Installation von (und mit) Andreas Mühe im Kunsthaus Dahlem
Installation von (und mit) Andreas Mühe in Berlin
Quelle: Gunter Lepkowski/© VG Bild-Kunst, Bonn 2024
80 Jahre D-Day – Andreas Mühe setzt sich wieder einmal mit deutscher Geschichte auseinander. Aber diesmal nicht als Fotograf. In Berlin nähert er sich den Betonbunkern des Zweiten Weltkriegs, auf eine irritierend weiche Art.
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Schuhe aus, ein Schritt über den Beckenrand, und der alte Reflex aus dem Bällebad funktioniert noch immer. Rücklings lässt man sich fallen wie ein Kind. Halb schwebt man, halb versinkt man in einem Meer von …

Auch Andreas Mühe liegt jetzt in Socken da auf dem Rücken, in dem Bad, dass er selbst angerichtet hat, im Kunsthaus Dahlem. Ihm fällt es ein wenig schwer, sich aus der Rückenschwimmerposition wieder aufzurichten, dabei ist der passionierte Surfer geübt, sich aus jeder Strömung wieder aufs Brett zu ziehen, der nächsten Woge entgegen, an den Wellenreiter-Treffpunkten der Atlantikküste.

Doch wir sind hier eben nicht an einem Pinien-gesäumten Strand Frankreichs, sondern im ehemaligen Atelier von Arno Breker unter den Kiefern von Berlin-Dahlem. Und planschen weder im Wasser noch im Bällebad, sondern liegen wie die Käfer zwischen 6000 Bunkern aus Plüsch.

Man kann in sie eintauchen, sich die Plüschbunker gegenseitig zuwerfen wie Kuscheltiere. Und manche haben tatsächlich eine Art Gesicht. Schießscharten sehen plötzlich aus wie dunkle Augen, die tiefen Waffenschlitze werden zu seltsamen Schnäbeln. Farblich bleiben die flauschigen Objekte im Bereich der Fifty-Shades-of-Grey des granatenharten Stahlbetons: hellgrau, dunkelgrau, steingrau, staubgrau, zementgrau, greige, beige.

Splitterschutzelle als Handschmeichler

Elf Typen historischer Bunkerbauten hat Andreas Mühe bei der traditionsreichen Spielzeugmanufaktur in Bad Kösen im handlichen Maßstab fertigen lassen. Kleinere Exemplare messen kaum zehn mal zehn Zentimeter, größere auch vierzig Kubikzentimeter oder mehr.

Für das größte war ein Berliner Hochbunker das Vorbild, für den kleinsten Spielzeugbunker eine für ein bis höchstens zwei Personen ausgelegte Splitterschutzzelle, und natürlich sind auch die französischen Wallbunker dabei. Alle sind weich und anschmiegsam, überzogen mit Kuscheltierpelz, arrangiert zu einer Art Bühnenbild.

Andreas Mühe, „Bunker – Mood 06“, 2024
Andreas Mühe, „Bunker – Mood 06“, 2024
Quelle: © VG-Bildkunst, Bonn 2024

War Andreas Mühe nicht eigentlich Fotograf? Bekannt geworden durch politisch aufgeladene Serien wie „Obersalzberg“, eine inszenierte „Deutschlandreise“ mit Angela Merkel oder sein Projekt „Mischpoche“, für die er die toten Mitglieder seiner berühmten Familie als Wachsfiguren auferstehen ließ. Eine Abwendung von seinem gelernten Handwerk sei es jedenfalls nicht, sagt Mühe, dafür möge er die Fotografie viel zu sehr. Aber Bunker hätten ihn schon lange fasziniert. Und das hat auch mit dem Surfen zu tun.

Von der Biskaya bis in die Bretagne seien die Bunker des Atlantikwalls bei jedem Familienurlaub mehr als anwesend gewesen. Kein französischer Surferstrand ohne die Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg: „Fremdkörper in der Landschaft, so wie ich ja auch als Urlauber dort Fremdkörper bin“, so Mühe.

Irgendwann sei ihm zwangsläufig das Buch „Bunkerarchäologie“ von Paul Virilio in die Hände gefallen, der sozusagen den philosophischen Überbau zu den von den Nazis errichteten Wallanlagen geschrieben und sie mit eigenen Fotografien illustriert hatte. Mühe habe sogar seinen Kindern aus Virilio vorgelesen, bis sie ihn fast für verrückt erklärten. Aber die in diesen brutalistischen Betonklötzen massierte Geschichte hat den Künstler nicht losgelassen.

Andreas Mühe, „Bunkerbeschussplatte I“, 2024
Andreas Mühe, „Bunkerbeschussplatte I“, 2024
Quelle: © VG-Bildkunst, Bonn 2024
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„Der D-Day ist das ausschlaggebende Ereignis in meinem Zeitstrahl auf deutsche Geschichte, auf die Entstehung von Europa“, sagt Mühe. Jedes Mal, wenn er im Atlantik schwimme oder surfe und diese Bunker sehe, habe er die Generation seiner Großeltern im Kopf, auch wenn die eigenen Großväter nicht in Frankreich gekämpft hätten.

Seine Ausstellung eröffne deshalb am 6. Juni 2024 – 80. Jahrestag des D-Day, als die Landung der Alliierten in der Normandie das Ende der NS-Regimes einleitete. „Da sind junge Männer aus Amerika, aus England mit einer Euphorie in den Krieg gezogen, um Deutschland und Europa vom Faschismus zu befreien. Sie haben sich mit der Flut an Land schwemmen lassen, um diesen von hunderttausend Zwangsarbeitern gebauten Wall zu überspringen und ins Feuer zu gehen.“

Die Bunker der Westfront haben die Zeit als stumme Zeugen überdauert. Sie sind verwittert, haben sich unter der eigenen Betonlast im Sand geneigt, manche sind sogar umgekippt. Im Kunsthaus Dahlem, dem in seinen Maßstäben großherrlich überdimensionierten Atelierhaus, das sich einst Hitlers Lieblingsbildhauer Breker hatte bauen lassen, liegen ihre Wiedergänger aus Plüsch nun drunter und drüber in ihrem riesigen Becken.

Der Verniedlichungseffekt der Stoffobjekte irritiert. „Ein Bunker ist groß, schwer, kalt, unzerstörbar, ein Monolith, sakrales Relikt der Geschichte“, erklärt Mühe. „Das diametral Entgegengesetzte ist, den Bunker zu verkleinern, ihn weich und kuschelig zu machen. Das war mein Grundgedanke.“ Ein radikaler Abenteuerspielplatz.

DDR: Bunker als Spielgeräte

Andere Berliner aus dem Kunstzirkus haben lieber Bunker gekauft, um sich die unzerstörbaren Gebäude untertan zu machen. Andreas Mühe steigt wieder in sein Kuschelbecken und zieht einen großen grauen Würfel mit hohlen schwarzen Augenhöhlen heraus. Unverkennbar der „Bananenbunker“, der zu DDR-Zeiten als Südfrüchtelager diente und nach der Wende einer der härtesten Berliner Techno-Clubs wurde, ehe ihn sich der Kunstsammler Christian Boros zum Ausstellungsraum und als sturmsicheres Fundament für sein Penthouse ausgebaut hat.

Dann hält Mühe einen kleinen pelzigen Kegelstumpf mit Kinderlächeln hoch und erklärt, warum mitten in seiner Plüschbunkerinstallation auch drei pastellbunte Kunststoff-Iglus stehen. Die sehen den Einmannbunkern, die Mühe auf Fotos zeigt, ziemlich ähnlich, und wurden von der Formgestalterin Ursula Wünsch entworfen.

Sie standen früher auf den Spielplätzen von Karl-Marx-Stadt (wo Andreas Mühe 1979 als Sohn des Schauspielers Ulrich Mühe und der Regisseurin Annegret Hahn geboren wurde) bis Berlin-Oberschöneweide (wo Mühe aufwuchs). Im Inneren der partiell durchlöcherten Spielgeräte kommen schnell Gefühle des Eingebunkertseins auf, die auch Virilio beschrieben hat.

Spielplatz in Rostock, 1976
Spielplatz in Rostock, 1976
Quelle: ddrbildarchiv.de/Klaus Fischer
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Die Ausstellung weckt aber nicht nur die von Mühe bemühte Erinnerung an den Tag X im Zweiten Weltkrieg, sondern beschwört aktuelle Bilder herauf. Etwa aus der Ukraine, die seit bald zweieinhalb Jahren dem Angriffskrieg der Russen trotzt: Schulklassen beim Unterricht in U-Bahnhöfen, Menschen in den Kellern ihrer ausgebombten Häuser. Auch der Gazastreifen wird präsent, in dessen unterirdische Tunnel die Hamas israelische Geiseln verschleppt hat, während die palästinensische Bevölkerung Schutz sucht.

In Deutschland wird angesichts der wachsenden Bedrohungslage bereits die fehlende Infrastruktur an Schutzanlagen beklagt und manche fragen sich, ob die Nutzung von Luftschutzbunkern als Kunstgalerien nicht auch ein Symbol für die Leichtgläubigkeit der jüngeren Vergangenheit ist. Andreas Mühe hat sein Projekt lange vor der sogenannten „Zeitenwende“ geplant.

Im Kunsthaus Dahlem stellt die Direktorin Dorothea Schöne seine Installation in den Kontext der Bunkerfaszination zeitgenössischer Künstler. Von Joachim Bandau sind Bleistiftzeichnungen und geometrische Skulpturen aus Blei zu sehen. Der Fotograf Erasmus Schröter hat die Bunker des Atlantikwalls theatralisch angestrahlt.

Goksu Baysal dokumentiert eine Bunkerwehranlage in der Türkei und wie sie heute genutzt wird. Auch von Andreas Mühe wird eine neue Serie von Fotounikaten gezeigt, in der er Bunkerbeschussplatten bei Nacht in Szene setzt. Und die einflussreichen Fotos von Paul Virilio fehlen natürlich nicht.

Er hat den Bau des Walls an der Atlantikküste als Kind erlebt. Später hat er die Bunker genauer untersucht: „Der stärkste und unmittelbare Eindruck war das zugleich innere wie äußere Gefühl von Vernichtung“, schreibt Virilio in seinem 1975 erschienenen Essay „Bunkerarchäologie“.

„Die Maßlosigkeit dieses Projekts war es wohl, die den gesunden Menschenverstand überstieg; der totale Krieg wurde hier in seiner mythischen Dimension enthüllt.“ Im künstlerisch besten Sinne maßlos ist nun auch, wie sich Mühe der Geschichte annähert, deren gebaute Hinterlassenschaften plötzlich zu einem Mahnmal für die Gegenwart geworden sind.

„Andreas Mühe. Bunker – Realer Raum der Geschichte“, 7. Juni bis 6. Oktober 2024, Kunsthaus Dahlem, Berlin

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