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Essen & Trinken Selbstversuch

Mein kulinarisches Jahr ohne Alkohol

Die Ansprüche an promillefreie Begleitungen sind hoch: Nicht der Durst soll gestillt werden, sondern der Gaumen verführt Die Ansprüche an promillefreie Begleitungen sind hoch: Nicht der Durst soll gestillt werden, sondern der Gaumen verführt
Die Ansprüche an promillefreie Begleitungen sind hoch: Nicht der Durst soll gestillt werden, sondern der Gaumen verführt
Quelle: Getty Images/Jordan Lye
Wie lebt es sich alkoholfrei in einer Welt voller Drinks? Unsere Autorin ist Restaurantkritikerin und hat in ihrem ersten nüchternen Jahr zahlreiche, köstliche Alternativen entdeckt – von Erdbeerkombucha bis Bratbirnensekt.

Ich trinke keinen Alkohol mehr. Eine Entscheidung, die ähnlich lang heranreifte wie ein edler Bordeaux und dann endlich umgesetzt wurde. Gründe dafür hatte ich viele: unzählige an den Kater verlorene Wochenenden, eine voranschreitende Verengung der Lebensperspektive, graue Tage, Schlaflosigkeit. Eine Änderung alter Gewohnheiten ist immer schwer. Bei mir kam erschwerend die Frage dazu: Ist Nüchternsein mit dem Beruf der Journalistin vereinbar, die über Essen und Trinken schreibt?

Entsprechend gespannt – und, zugegeben, besorgt – war ich in Hinblick auf mein erstes komplett nüchternes Jahr. Dass es alles andere war als eine Durststrecke, lag am rasch wachsenden Markt an Alternativen zu Bier, Schnaps und Wein, an inspirierenden neuen Bekanntschaften und am Bemühen vieler gehobener Restaurants, alkoholfreie Menübegleitungen anzubieten, die sich nicht vor der Weinbegleitung verstecken müssen.

Und dann ging es endlich los: Zu Beginn des Jahres 2021 muss ich erst mal schlucken: das erste nüchterne Silvester seit, hoppla, 17 oder 18 Jahren. Zum üppigen Buffet (vegane Aufstriche, Ofenkäse, Maroni-Torte) trinken meine ebenfalls abstinente Freundin und ich einen alkoholfreien Rosé. Das Feiergefühl stellt sich nur aufgrund des ploppenden Korkens ein, weil: schal wie ein Schaumwein im Winterschlaf. Wird so mein kulinarisches 2021?

Im Januar teste ich mit meinem Sommelier-Freund Jan das, was Berliner Restaurants zum Mitnehmen anbieten. Das passt gut zu meinem Entschluss, weil ich dabei frei in meinen Kombinationsmöglichkeiten bin und mich vor niemandem am Tisch rechtfertigen muss. Das alkoholfreie Atlantik Ale von Störtebecker mit seiner subtilen Zitrusnote eignet sich super zu mexikanischen Tamales, Sven Leiners sprudelnder Traubensaft Fusion Free zur japanischen Chirashi-Box. Außerdem habe ich einen tollen Ersatz für den manchmal dringenden Verdauungsschnaps gefunden: Markmans, ein Grüntee-Kräutergebräu mit belebender Wirkung. Schmeckt nach Waldspaziergang im November und feuchtem Moos.

Im März gibt es was zu feiern: Ich finde einen Verlag für mein Buch über Frauen und Alkohol. Darauf einen Champagner Bratbirne! Die vom schwäbischen Obstwiesenmeister Jörg Geiger zum alkoholfreien Schaumwein veredelte alte Obstsorte gehört zu meinen derzeitigen Favoriten. Ein bisschen Weihnachten, ein bisschen Obstgarten, samt champagnertypischen Briochenoten. Ich kaufe ihn bei „Nüchtern Berlin“, dem ersten alkoholfreien Kiosk in Berlin mit angeschlossenem Online-Shop. Die Betreiberin Isabella Steiner ist wie eine Verbündete. Es ist leichter, den Wein im Restaurant dankend abzulehnen, wenn wenigstens eine Person am Tisch ebenfalls nüchtern bleiben will. In meinem privaten Umfeld ist das erstaunlich oft der Fall, ganz im Gegensatz zu Presseterminen. Die angeheiterte Heiterkeit frustriert mich dann, oft gehe ich als Erste. Sober Firsts nennt die Autorin Ruby Warrington diese Momente, die mit jedem Mal besser zu bewältigen seien. Sie hat recht.

Einmal trinke ich Alkohol, in Form eines Pét-Nat-Tees aus dem Baskenland, für 30 Euro die Flasche, als Begleitung zu einer Emmer-Sashimi-Bowl im Berliner Restaurant „Julius“. Schmeckt komplex, erwachsen, eigensinnig, hat aber leider 2,5 Prozent. Schon nach ein, zwei Schlucken stelle ich eine Veränderung fest, einen Fehlton. Es ist, als ob sich ein Vorhang zwischen mich und die Welt schöbe, kein blickdichter, sondern einer in der Farbe des Berliner Himmels, grau, trüb, ohne Fokus. So will ich mich nicht mehr fühlen. Ich trinke das Glas nicht aus.

Die positiven Seite des Wirkungstrinkens

Im Mai ziehe ich nach Wien. Leider hängt meine neue Heimat ein wenig hinterher, was die Vielfalt an alkoholfreien Alternativen betrifft. Ausnahmen gibt es, die hauen mich dafür komplett um. Im burgenländischen „Landgasthof Schiller“ werde ich von einer alkoholfreien Begleitung überrascht, die mit viel Aufwand selbst produziert wurde, darunter ungewohnt pfeffriger Apfel-Sichuan-Saft und Thymian-Hanftee. Und das in der sogenannten Provinz! Noch spektakulärer ist das alkoholfreie Pairing im Wiener „Tian“: heftige Sauerteigbrotlimonade, süß-saurer Honigessig mit Lerchenwipfel und Kerbel, Spargel-Shrub. Letzterer eher was für Fortgeschrittene, weil Gemüse im Glas erst mal irritiert.

Die Ansprüche an promillefreie Begleitungen sind hoch. Nicht der Durst soll gestillt werden, sondern der Gaumen verführt. Genau wie Wein sollen Tees, Säfte und hausgemachte Limonaden die Ideen der Küche ins Glas transportieren. Gar nicht so einfach, sagen die einen. Andere sehen es als Möglichkeit, ganz neue Geschmackswelten zu bauen. Fest steht, dass hinter diesen Kreationen sowohl Mind- als auch Manpower stecken, weswegen sie vielerorts genauso teuer sind wie das alkoholische Pendant.

Kurze Zeit später fahre ich nach Berlin. Im „Irma La Douce“ gibt es zur Bouillabaisse alkoholfreien Rieslingsekt mit Rhabarber und Verjus, dem Saft unreifer Trauben. Kann man machen, wobei die doppelte Säure auf ganz eigene Art ins Blut geht. In einem Pop-up des „Nobelhart & Schmutzig“ werden Gerichte wie in Buttermilch blanchierter Kohlrabi begleitet von ultra-erdbeerigem Erdbeerkombucha, üppiger Johannisstrauchmilch und in Apfelsaft eingelegten Fichtensprossen, die delikate Bitterakzente setzen. Dennoch will Sommelier Billy Wagner im Regelbetrieb vorerst keine so umfassende alkoholfreie Begleitung anbieten: zu viel Aufwand, zu wenig Interesse. Kann das sein? Schon heute ist jedes zehnte in Deutschland getrunkene Bier alkoholfrei, und die Zahl abstinent lebender Menschen steigt kontinuierlich (außer bei gebildeten, emanzipierten Frauen). Mir jedenfalls geht es besser denn je, abgesehen von den Momenten, in denen mir im Restaurant mitleidig ein Glas Wasser oder ein Safer Sex on the Beach hingestellt wird.

Vegane Sterneküche: Wie sinnvoll ist das?
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Umso mehr freuen mich Erlebnisse wie in der „Roten Wand“ in Vorarlberg. Chefkoch Max Natmessnig kocht Steinbutt mit Muschelsud und Tofuhaut, seine Partnerin Bekah Roberts-Natmessnig serviert dazu eine beeindruckende, komplett selbst gemachte Begleitung, mit herb-saurem Sanddorn-Paprikasaft oder Grüntee mit Tomaten, Tonkabohnen und Buttermilch – eine anspruchsvolle Kombination von Mandel-, Milch- und den grünteetypischen Bitternoten. Toll auch der Saft von der Muskatellertraube mit den japanischen Salzpflaumen Umeboshi im ebenfalls in der Region gelegenen „Klösterle“. Die muskatellertypische Blumigkeit trifft auf die für westliche Gaumen überraschende Verbindung von extremer Säure und Salzigkeit der Umeboshi – bitte mehr davon!

Im Hochsommer sehe ich mir im Kino den Oscar-Gewinner „Der Rausch“ an. Toll, dass der Film über vier Freunde, die herausfinden wollen, ob das Leben mit einem Dauerschwips nicht viel lebenswerter ist, auf Ambivalenz besteht. Um mich herum klirren derweil Bierflaschen und Spritzergläser. Österreicher trinken deutlich über Europa-Durchschnitt: zweieinhalb Flaschen Wein pro Woche.

Sommerzeit ist Wanderzeit. Früher gehörte für mich immer Haselnussgeist dazu. Dieses Jahr komme ich auf den Geschmack von Lavendelspritzer, mit Lavendelsirup versetztes Sodawasser. Zu den Käsespätzle dann ein fein-hopfiges Alkoholfreies der Wiener Brauerei Gösser. Netter Nebeneffekt: Der anschließende Auf- oder Abstieg erfolgt mit klarem Kopf.

Mit Kräutern oder Zimtschneckenextrakt

Im September bin ich wieder für eine Woche in Berlin. Die alkoholfreie Begleitung im „Horváth“: Grünes Tomatensorbet mit salzigem Rhabarbersaft, ein intensiv-kräutriger Dillblütenauszug mit Öl von roten Traubenkernen, Meerrettich-Molke, deren Schärfe perfekt von Honig gebändigt wird – kein Wunder, schließlich war Sebastian Frank einer der Ersten, die mit Saftauszügen arbeiteten. Im „Golvet“ hat es mir besonders der Rote-Bete-Kefir mit weißer Schokolade und Sauerkirsche angetan. Dieser schmeckt dankenswerterweise gar nicht nach Roter Bete, sondern wie ein Kirscheis mit Extrasahne.

Mitte September habe ich Geburtstag. Seit ich 14 bin, habe ich keinen davon mehr nüchtern erlebt. Dieser ist wunderbar: Wir stoßen an mit dem alkoholfreien Schaumwein von Muri, der in Kopenhagen produziert wird. In der Wiener „Disco Volante“ gibt es zur neapolitanischen Pizza die sizilianische Bitterorangenlimonade Chinotto und alkoholfreies Bier. Manche meiner Gäste trinken Weißwein. Es ist mir auf befreiende Art vollkommen egal.

Gegen Ende des Jahres führen mich berufliche Reisen ins Istanbuler „Turk“ (zum Selleriekebap gibt es Granatapfel-Salbei-Saft und herrlich sahnigen Büffelmilchayran) und nach Kopenhagen ins „Brace“, dessen Begleitung mich begeistert: grasig-scharfer, grüner Tomatensaft mit Kurkuma, Kaffeekombucha, der an kalten, mit Sprudel versetzten Filterkaffee erinnert. Kurze Zeit später ist in Wien wieder Lockdown. Entsprechend groß ist die Freude über meine im Laufe des Jahres angewachsene Hausbar mit honigsaurem Apfel-Quitten-Shrub vom Freimeisterkollektiv, dem nach Adventssonntagen duftenden Kräuterdestillat Easip Woods und alkoholfreiem Gin von Laori. An meinem zweiten nüchternen Silvester mixen wir No-Mericanos vom Drinksyndikat, aus einer per Post verschickten Cocktailbox. Cheers!

Restaurantkritikerin Eva Biringer
Restaurantkritikerin Eva Biringer
Quelle: Florian Reimann

Eva Biringer ist Restaurantkritikerin. Ihr Buch „Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen“ erscheint im April bei Harper Collins.

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