Eigentlich ist die Rur in der Eifel ein eher kleiner, beschaulicher Fluss. Selten ist er breiter als 25 Meter; an der Mündung in die Maas fließen pro Sekunde etwa 26 Kubikmeter Wasser durch die Rur.
Im Februar 1945 war das allerdings anders. Auf dem oft abschüssigen Ostufer der Rur und dahinter hatten sich deutsche Truppen in einem gut befestigten Stellungssystem eingegraben und in Erwartung des Angriffs der 9. US-Armee am 8. Februar die Tore von Urfttal- und Rurtalsperre südlich von Düren geöffnet. Rund 100 Millionen Kubikmeter machten die Rur zu einem reißendem Hindernis. Natürlich waren alle Brücken gesprengt.
Die 9. US-Armee verschob ihren Angriff, der für den 10. Februar geplant gewesen war, um zunächst eine Woche, dann auf den frühen Morgen des 23. Februar. Die Operation trug den Decknamen „Grenade“.
Ganz vorne standen an diesem Freitag, an dem auch die Royal Air Force die Stadt Pforzheim aus der Luft zerstörte, rund 1000 Mann US-Sturmpioniere. Doch hinter ihnen drängten sich in einem engen Aufmarschgebiet zwischen Maas, Rur und der Nordeifel gleich 14 nach den Kämpfen um die Ardennen aufgefüllte und mit frischem Material ausgestattete Divisionen.
Armee-Oberbefehlshaber Generalleutnant William H. Simpson verfügte über insgesamt 46.000 Tonnen Munition in seinen Arsenalen; viermal so viel, wie normalerweise eine Armee in Frontnähe bereithielt. Auch Amphibienfahrzeuge und leichte Panzer standen bereit, um so schnell wie möglich auf die andere Seite der Rur vorzustoßen. Elf Millionen Liter Treibstoff sollten für den Vorstoß Tausender Fahrzeuge zum Rhein genügen.
Zwar hatten die Ingenieure der US-Armee berechnet, dass nach knapp zwei Wochen das Hochwasser zurückgehen sollte, doch davon war am Abend des 22. Februar wenig zu sehen. Ein möglicher Grund: Bei ihrer Berechnung hatten die Experten wohl nicht hinreichend berücksichtigt, dass auch der jahrelang angesammelte Schlamm aus der Talsperre mitgeschwemmt worden war.
So war das Hochwasser eben noch nicht abgeklungen, als nach intensivem Dauerfeuer auf die deutschen Stellungen am 23. Februar um 3.30 Uhr die Sturmpioniere vorgingen. In Booten setzten sie zusammen mit Infanteristen über, die das Ufer unter Kontrolle bringen sollten. Die Pioniere hatten Rollen mit Stahlkabel bei sich, mit denen sie provisorische Fußsteige über den Fluss errichten wollten.
Ohne größere Schwierigkeiten erreichte die erste Welle das Ostufer. Die Infanterie schwärmte aus, doch plötzlich setzte heftiges MG- und Granatwerferfeuer auf die Pioniere ein. Die deutschen Feldbefestigungen hatten unter dem Artilleriefeuer nur wenig gelitten. Davor lagen Minenfelderfelder.
Doch die Pioniere mussten weitermachen: An den Stahlkabeln wurde Boot um Boot über die weiterhin reißende Rur gezogen; gleichzeitig errichteten andere Männer auf dem Fluss zwischen gespannten Stahlkabeln Fußsteige. Immer wieder stürzten US-Soldaten ins Wasser oder wurden von Scharfschützen getroffen.
Am schlimmsten war der Übergang bei Jülich. Dort versuchten die Pioniere nämlich, einen Fußsteig genau im Sichtbereich eines gut getarnten deutschen Beobachtungspostens über die Rur zu schlagen. Der unbekannte Wehrmachtsoffizier in dem Posten lenkte das Feuer seiner weiter hinten stationierten Granatwerfer immer wieder genau auf die dafür nötigen Kabel. Dreimal zerstörten die Detonationen die bereits gespannten Drähte. Beim vierten Versuch konnte endlich der Fußsteig errichtet werden.
Doch als dann zwei Sanitärer einen Verwundeten auf einer Trage vom Ostufer der Rur auf die andere Seite zum Behelfslazarett bringen wollten, traf eine Mörsergranate den Steig; das reißende Wasser erledigte den Rest: Die Träger und der Verwundete versanken im Fluss, konnten sich aber an die Trümmer des Steiges klammern. Pioniere kamen sofort mit einem Sturmboot zu ihnen und konnten sie retten.
Erst am Abend des 23. Februar 1945 war der Fußsteig bei Jülich im fünften Anlauf stabil; insgesamt wurden an diesem Freitag fast 50 provisorische Übergänge über die Rur gebaut. Bald folgte die erste von zwei Dutzend Brücken aus großen Pontons – nun konnten auch leichte Panzer und Lastwagen den Fluss kreuzen. Bis zum Abend hatten rund 25.000 US-Soldaten die Rur überquert, in der Nacht folgten die ersten leichten Panzer.
Am Ostufer der Rur herrschte, so der deutschstämmige Lieutenant Colonel Eric E. Bischoff, „unbeschreibliche Konfusion“ bei den US-Truppen. So meldete eine Gruppe Infanteristen, gleich vier „Panther“ gesichtet und mit Bazookas ausgeschaltet zu haben. Doch am angegebenen Ort gab es gar keine deutschen Panzer, und es wurden auch später keine Wracks gefunden.
Insgesamt waren die Verluste der 9. US-Armee für eine Operation dieser Größe am ersten Tag relativ gering. Sie betrugen 92 Tote, 61 Vermisste und 913 Verwundete. Nun konnte der Vormarsch zum Rhein beginnen, der letzten natürlichen Barriere auf dem Weg ins deutsche Kernland, vor allem das Ruhrgebiet.
Allerdings zählten allein die US-Sturmpioniere in den 18 Stunden ihres Angriffes 31 Tote und 226 Verwundete – also Verluste von rund einem Viertel ihrer eingesetzten Stärke. Vor allem die deutschen Minen und Sprengfallen waren dafür verantwortlich. Hinzu kamen noch einige Vermisste, die vom Hochwasser mitgerissen worden waren, über die Maas sowie den Rhein in die Nordsee gespült wurden und nie wieder auftauchten.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.
Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2020 veröffentlicht.