Warnsignale hatte es genug gegeben. Doch sie wurden nicht beachtet oder als Ergebnis von Wunschdenken beim Gegner betrachtet. Und als sich die Hinweise konkretisierten, war man nicht mehr überrascht – und also auch nicht alarmiert.
Bereits am 4. September 1944 hatte der japanische Botschafter in Berlin über Gespräche mit Adolf Hitler und Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop nach Tokio berichtet: Im November sei eine Offensive der Wehrmacht im Westen geplant, meldete Oshima Hiroshi. Die alliierte Funkaufklärung, die den diplomatischen Code des Kaiserreichs problemlos entschlüsseln konnte, las mit – aber niemand nahm die Information ernst.
Besonders nachlässig agierte die deutsche Luftwaffe. Am 31. Oktober dechiffrierten die Codebrecher in Bletchley Park einen Befehl von Hermann Göring, laut dem alle Jagdstaffeln die Umrüstung ihrer Maschinen zu Jagdbombern binnen 24 Stunden vorzubereiten hatten. Aber nennenswerte Jagdverbände gab es nur im Westen, und wenn diese Maschinen für den Einsatz gegen Bodenziele vorgesehen waren, musste etwas bevorstehen.
Die Serie der Warnungen ging weiter: Am 14. November berichtete Blechtley, die deutschen Jagdflieger im Westen sollten ihre Geschwaderzeichen übermalen. Am 1. Dezember wurde der Befehl entschlüsselt, die Ausbildung der nationalsozialistischen Führungsoffiziere, so etwas wie Politkommissare der NSDAP, werde wegen der bevorstehenden „Spezialoperation“ unterbrochen. Zwei Tage später war in einem Befehl abermals der Luftwaffe die Rede von „Operationen im Westen“.
Das dringendste Warnzeichen aber war, dass solche Meldungen fast nur von der bekanntermaßen in Geheimhaltungsfragen laschen Luftwaffe stammten – nicht aber vom Heer und auch nicht von der Waffen-SS. Im Gegenteil: Deren Einheiten funkten Anfang Dezember 1944 so gut wie gar nicht. Spätestens bei dieser Einsicht hätten die alliierten Aufklärungsoffiziere ihre Vorgesetzten dringend warnen müssen.
Sie taten es nicht oder nicht mit dem notwendigen Nachdruck. So gelang am 16. Dezember die Überraschung: Mit doppelt überlegenen Kräften, insgeheim zusammengezogen, begann die Wehrmacht an der Westfront eine Großoffensive. Auf rund hundert Kilometer Frontlänge zwischen der Kleinstadt Monschau in der Nordeifel und Trier im Süden stießen etwa 200.000 deutsche Soldaten in die Ardennen vor.
Ihnen standen drei Infanteriedivisionen und eine Panzerdivision gegenüber: Die 99. und die 106. Infanteriedivision, beide unerfahren, hatten erst Anfang Dezember Stellungen in Frontnähe bezogen. Die 28. Infanteriedivision war von den Kämpfen im Hürtgenwald ausgelaugt; die 1. US-Armee hatte sie in das vermeintlich nicht gefährdete Gebiet westlich von Bastogne verlegt. Die 9. Panzerdivision, ebenfalls bis dahin ohne nennenswerten Feindkontakt, stand im Süden der Front. Die 7. Panzerdivision, nach der misslungenen Offensive „Market Garden“ gerade erst aufgefrischt, lag nahe Spa in Bereitschaft.
Was aber war Hitlers Kalkül? Hatte er tatsächlich schon Ende August 1944 geplant, Ende des Jahres eine Großoffensive im Westen zu beginnen, wie Oshima Hiroshi berichtet hatte? Was war das Ziel dieses Angriffes?
In der zweiten Hälfte des Krieges verfolgte Hitler, wie der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser erklärt, eine Zweifrontenstrategie, die an deutsche Planungen vor dem Ersten Weltkrieg erinnerte. Im Kern stand die (zutreffende) Erkenntnis, dass Deutschland nicht die Ressourcen an Material und Soldaten hatte, an beiden Hauptfronten gleichzeitig zuzuschlagen. In diesen Überlegungen spielte die als überlegen angenommene deutsche Transportlogistik die entscheidende Rolle.
Vor der Invasion der Amerikaner und Briten in der Normandie wartete der oberste Kriegsherr des Dritten Reichs geradezu auf die Landung. Seine Vorstellung: Die Wehrmacht würde die Alliierten ins Meer zurücktreiben, was eine erneute Offensive im Westen jedenfalls im Jahr 1944 ausschließen würde. Dann wollte er starke Kräfte an die Ostfront verlegen lassen, um dort die Rote Armee in Weißrussland und Polen zu schlagen.
Es kam anders: Amerikanern und Briten gelang es, trotz schwerer Kämpfe Frankreich zu befreien, und im Osten fügte die Rote Armee mit der Operation „Bagration“ der Wehrmacht eine schwere Niederlage zu. Der erste Versuch, die Initiative zurückzugewinnen, war misslungen.
Dennoch hielt Hitler an seinem Grundkonzept fest. Sobald sich die Ost- und die Westfront der Wehrmacht Ende August/Anfang September 1944 einigermaßen stabilisiert hatten, dachte sich der Diktator erneut eine ähnliche Strategie aus. Diesmal wollte er im Westen vor allem den Amerikanern eine schwere Niederlage zufügen und gleichzeitig den Großteil der britischen Truppen auf dem europäischen Festland einschließen.
Nach diesem Schlag wollte er die Panzerdivisionen der Wehrmacht und der Waffen-SS mithilfe des deutschen Bahnsystems an die Ostfront verlegen lassen. Hier sollten sie mit den im Kurland-Brückenkopf stehenden Truppen zu einer riesigen Kesselschlacht gegen die Rote Armee antreten.
Der Plan hatte neben der grundsätzlichen strategischen Blaupause des Schlieffen-Planes von 1914 ein konkretes operatives Vorbild: die Ardennenoffensive von 1940. Die sollte zwar nicht eins zu eins wiederholt werden (dafür fehlten der Wehrmacht die notwendigen Kräfte). Als Ziel des Vorstoßes zum Ärmelkanal war nicht mehr Calais vorgesehen wie 1940, sondern Antwerpen, inzwischen der wichtigste Versorgungshafen für die alliierten Truppen.
Dafür ließ Hitler alle verfügbaren Reserven der Wehrmacht und der Waffen-SS zusammenziehen. 13 Infanterie- und sieben Panzerdivisionen mit zusammen mehr als 400.000 Mann, 550 Kampfpanzern und fast 700 Sturmgeschützen sowie mehr als 4000 Geschütze standen bereit. Ihnen standen gerade einmal halb so viele US-Soldaten gegenüber, die über insgesamt etwa 1000 Kampf- und Jagdpanzer verfügten.
Die gesamte Verlegung der deutschen Truppen war unter strengster Funkstille vor sich gegangen; Befehle wurden auf Hitlers Weisung nur durch Kradmelder weitergegeben. Allerdings ignorierten einige Luftwaffen-Einheiten diese Order. Doch diese Hinweise wurden nicht ernst genommen – mit beinahe katastrophalen Folgen.
1944 – Niederlagen an allen Fronten
Während Amerikaner, Briten und Kanadier in der Normandie landen, überrennt die Rote Armee die deutsche Ostfront. Das Attentat auf Hitler scheitert. Bald stehen die Alliierten auf deutschem Boden.
Quelle: WELT
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Dieser Artikel wurde erstmals im November 2019 veröffentlicht.