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  3. Corona-Krise: Das „Hamstern“ lernten die Deutschen ab 1914

Geschichte Corona-Krise

Als die Deutschen schon einmal das „Hamstern“ erlernten

Fast nichts fürchten Menschen so sehr wie Lebensmittelknappheit. Lieber kaufen sie Regale leer. Doch wer sich gegenwärtig an die Hungerkatastrophe des Ersten Weltkrieges erinnert fühlt, ist der Panik bereits erlegen.
Leitender Redakteur Geschichte
Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

In der öffentlichen Wahrnehmung scheint der Erste Weltkrieg im Schatten des Zweiten Weltkriegs zu stehen. Dabei war er der erste industrialisierte Krieg und forderte unfassbar viele Verluste.

Quelle: Reuters

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In Deutschlands Supermärkten werden gegenwärtig die Konserven knapp – eine Folge der um sich greifenden Corona-Panik. Egal ob begründet oder nicht: Viele Bürger hamstern derzeit haltbare Lebensmittel. Mancherorts sollen bereits Regale leer gekauft sein, Discounter melden teilweise Umsatzzuwächse von einem Drittel und mehr.

Äußerlich ähnlich, in Wahrheit jedoch völlig anders war die Situation vor gut hundert Jahren, als hierzulande zum ersten Mal im 20. Jahrhundert eine gefühlte Nahrungsmittelknappheit auftrat. Ihre Folgen führten dann, zusammen mit der totalen Seeblockade Deutschlands durch die britische Royal Navy, zu einer wirklich schlimmen Krise.

Erich Mühsam / Foto, 1920 Mühsam, Erich sozialist. Politiker und Schriftsteller Berlin 6.4.1878 - (ermordet) KZ Oranien- burg 10.7.1934. - Erich Mühsam in der Festungshaft- anstalt Ansbach. - Foto, 27.1.1920. Photo: AKG Berlin |
Erich Mühsam (1878-1934), Anarchist und Schriftsteller
Quelle: picture-alliance / AKG

Damals verbreitete sich der Begriff, der bis heute geläufig ist. Der Münchner Anarchist und Schriftsteller Erich Mühsam zum Beispiel schrieb am 1. Mai 1916 in sein Tagebuch: „,Hamstern‘ ist das neueste Schlagwort der Presse und des Publikums.“

Tatsächlich gab es das Phänomen des „Hamsterns“ in Deutschland schon vor dem eigentlichen Beginn des Ersten Weltkrieges, in der Phase der Kriegserwartung. Am 30. Juli 1914 registrierte das „Berliner Tageblatt“ außergewöhnlich lange Schlangen bei den Lebensmittelhändlern der Reichshauptstadt und besonders hohen Bedarf an haltbarer Nahrung.

In München erkannten am gleichen Donnerstag viele Ladenbesitzer die Gelegenheit und setzten die Preise herauf. An manchen Marktständen kosteten Kartoffeln bald doppelt so viel wie noch wenige Tage zuvor. Dieser Anstieg verunsicherte viele Frauen, zu deren Aufgaben seinerzeit der Einkauf gehörte. Vereinzelt kam es zu Rangeleien; gelegentlich schlossen Händler ihre Geschäfte, weil sie entweder Plünderungen erregter Kunden fürchteten oder ihre Vorräte zurückhalten wollten, bis die Preise noch höher stiegen.

Erster Weltkrieg: Brotverkauf. Photographie. Um 1918. |
Brotverkauf unter Polizeischutz: Berlin 1918
Quelle: picture alliance / IMAGNO/Austri

Und sie stiegen. Der freie Markt für Lebensmittel ließ sich nicht so leicht kontrollieren wie die Mieten, die schon wenige Tage nach Kriegsbeginn per Verordnung eingefroren wurden und fortan nicht mehr erhöht werden durften. Im Spätherbst 1914 gingen die deutschen Reserven an Futtermitteln zur Neige. Da gleichzeitig Preisobergrenzen für die Abgabe von Nahrungsmitteln erlassen wurden, begannen viele Bauern, wertvolles Brotgetreide an ihre Tiere zu verfüttern – denn Fleisch durfte noch frei auf dem Markt abgesetzt werden.

Teilweise also sogar wegen der verordneten Preisgrenzen für Getreide und Kartoffeln nahmen die verfügbaren Reserven ab. Anfang 1915 war absehbar, dass die Vorräte in den Städten keinesfalls bis zur nächsten Ernte reichen würden. Zunächst erließen Kommunalbeamte wie der Bürgermeister von Dülken bei Viersen, Kaspar Voß, noch Aufrufe an die Bürgerschaft, „sparsam in Haushaltungen und Lebensführung zu sein, sparsam zu sein mit Brot und Kartoffeln“.

Doch die einzige spürbare Folge solcher Bekanntmachungen war, dass Vorräte erwarb, wer immer das notwendige Geld hatte: Es kam zu Hamsterkäufen wie schon in den letzten Juli- und ersten Augusttagen 1914. Die „Viersener Zeitung“ kommentierte, gerade dieses Verhalten der Bevölkerung habe „der Regierung zu Bewusstsein gebracht, dass auf dem Gebiet der Versorgung mit schönen Ermahnungen schlechterdings nichts zu erreichen ist“.

Solingen-Zeitung-1917-14. Juli
Ausriss aus einer rheinischen Lokalzeitung von 1917
Quelle: Public Domain

Überall in Deutschland verhielten sich die Kunden ähnlich: Wann immer zu einigermaßen tragbaren Preisen Lebensmittel erhältlich waren, kauften sie weit über Bedarf hinaus und horteten alles, was haltbar war oder haltbar gemacht werden konnte. Anfang 1916 schimpfte fast jeder Deutsche auf die „Hamsterei“ – doch praktisch alle Menschen beteiligten sich daran.

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Der Chefredakteur der „Hildesheimischen Zeitung“, Wilhelm Karl Gerst, schrieb: „Verrucht ist, wer in dieser Zeit der Teuerung und Knappheit wuchert und sich an der Not des Volkes mästet.“ Zu diesen „Verruchten“ gehörte Constanze Hallgarten, Tochter aus wohlhabendem Hause und in München reich verheiratet.

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Sie beriet sich 1916 mit Freundinnen, wie man der Unterversorgung der eigenen Kinder, aber auch der Hausangestellten abhelfen könne: „Wir lernten ,hamstern‘, also Nahrungsmittel wie Butter, Mehl, Eier, Speck und Schinken, die in der Stadt streng rationiert waren, von den Bauern auf dem Land direkt zu kaufen oder durch ,Schleichhändler‘ kaufen zu lassen. Dies war natürlich ganz illegal und es stand Strafe darauf, aber es bürgerte sich allmählich ein.“

Lebensmittel-Krawalle/Hamburg/Nov.1918 Novemberrevolution 1918. 7. November 1918: Die Revolution erfasst Hamburg. - Lebensmittel-Krawalle in Hamburg: Demonstranten vor dem beschossenen Rathaus.- Foto (C. Henrich), November 1918. Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte. |
Lebensmittelkrawalle gab es in Hamburg und in anderen Städten
Quelle: picture-alliance / akg-images

Immerhin war sich Constanze Hallgarten, im Gegensatz zu anderen Angehörigen der Oberschicht, ihrer privilegierten Stellung bewusst: „Die Wohlhabenden konnten die oft fantastischen Preise, die gefordert wurden, zahlen. Aber die meisten Menschen in den großen Städten konnten das nicht. Sie hungerten und magerten ab.“

Wie viele Tote der Hunger in Deutschland im Ersten Weltkrieg forderte, kann nur geschätzt werden. Das Reichsgesundheitsamt rechnete im Dezember 1918 mit etwa 763.000 verhungerten Zivilisten seit Sommer 1914. Andere Angaben schwanken zwischen einer halben und anderthalb Millionen.

Bildpostkarte. Erster Weltkrieg. Propaganda.>Trauer-Anzeige für einen Brotlaib< Zynische Postkarte. 1918. |
Eine zynische Postkarte (um 1918)
Quelle: picture alliance / IMAGNO/Archiv

Auch rund zwei Jahrzehnte später steckte der Hunger der Jahre 1914 bis 1919 den meisten Deutschen noch in den Knochen. Das NS-Regime wollte eine ähnliche Situation unbedingt vermeiden. Als wesentliche Ursache galt, dass die Rationierung von Lebensmitteln seinerzeit nur schrittweise und halbherzig eingeführt worden sei; Folge wäre ein explodierender Schwarzmarkt mit gehamsterter Nahrung gewesen.

Deshalb holten am 1. September 1939 Beamte in ihren Behörden intern „Schubladengesetze“ genannte Verordnungen aus den Panzerschränken, die seit Jahren insgeheim erarbeitet worden waren. Man wollte nicht die Fehler wiederholen, die Anfang August 1914 zeitweise zu chaotischen Zuständen geführt hatten.

Bezugsschein, Lebensmittelkarte für Fett und Käse, Reichsfettkarte von 1939, Deutschland, Europa | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Die zweite Reichsfettkarte von Herbst 1939
Quelle: picture alliance / imageBROKER

Die Lebensmittelversorgung, die bereits seit dem 27. August 1939 durch Rationierung kontrolliert war, wurde nun vollständig staatlich gelenkt. Und es gab, anders als im Ersten Weltkrieg, strenge Strafen: Wer Nahrung hortete und so der Wirtschaftskontrolle entzog, um sie privat zu verkaufen, sollte fortan mit Haft büßen. „In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden“, hieß es weiter.

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Doch immer, wenn ein offizieller Markt stark reguliert wird, entstehen unkontrolliert illegale Alternativen – das galt auch für Hitlerdeutschland ab September 1939. Der Schwarzmarkt blühte auf, allerdings im Verborgenen. Wer immer konnte, „organisierte“ sich zusätzliche Lebensmittel über den offiziellen Satz hinaus.

Bezugsschein, Lebensmittelkarte für Fleisch, Reichsfleischkarte von 1939, Deutschland, Europa | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Die zweite Reichsfleischkarte von September/Oktober 1939
Quelle: picture alliance / imageBROKER

Das NS-Blatt „Völkischer Beobachter“ schrieb Mitte September 1939 unter der Überschrift „Frau Hamsterin“ gegen das Massenphänomen an: „Zwischen einer vorsorglichen Hausfrau und einer hamsternden Hausfrau besteht ein himmelweiter Unterschied. Die vorsorgliche Hausfrau wird stets in aller Ruhe dafür sorgen, dass sie die Lebensmittel, die sie heute oder morgen braucht, im Hause hat. Die hamsternde Hausfrau ist von einer ewigen Angst besessen. Sie kauft, was sie sieht.“

Ganz im Gegensatz zur Hoffnung der Parteijournalisten nahm jedoch das Phänomen des Hamsterns nicht ab, im Gegenteil. Denn alles, was man über den eigenen Bedarf zu ergattern vermochte, ließ sich beizeiten nutzbringend einsetzen. Der Markt und die menschliche Sorge um das eigene Wohlbefinden waren stärker als jede Regulierung und jede Drohung mit Strafen.

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