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Geschichte Fluch oder Segen?

Warum das deutsche Steuerrecht so kompliziert ist

Am 13. Dezember 1919 wurde die „Reichsabgabenordnung“ der Weimarer Republik verabschiedet. Was als „Interessenausgleich zwischen dem Staat und dem Bürger“ gedacht war, wuchs sich zu einem monströsen Steuerrecht aus – bis heute.
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Der Vertrag von Versailles und seine Hypotheken

Der Friedensvertrag, den das Deutsche Reich am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichnete, belastete die junge Weimarer Republik stark. So wurde er zur Keimzelle eines neuen Krieges.

Quelle: WELT/Berthold Seewald/Dominic Basselli

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Angeblich sollen die Steuergesetze aller Industriestaaten zusammen ungefähr genauso viele Seiten umfassen wie das deutsche Steuerrecht allein. Ob das nun stimmt oder – eher wahrscheinlich – nur einfach gut erfunden ist: Fest dürfte stehen, dass kein Land der Welt ein komplizierteres Steuerrecht hat als die Bundesrepublik. Sein Geburtstag ist der 13. Dezember 1919.

An diesem Samstag nämlich unterschrieb Reichspräsident Friedrich Ebert ein zunächst unverdächtig klingendes Gesetz. Es hieß schlicht „Reichsabgabenordnung“ und war doch eine der längsten Vorschriften, die die Nationalversammlung 1919/20 beschloss – 462 Paragrafen auf 107 Seiten des Reichsgesetzblattes. Und das zu einer Zeit, als noch nicht fast jedes denkbare Detail mit zusätzlichen Spezialfällen in endlosen Wortgirlanden auf Juristendeutsch formuliert wurde, sondern die meisten Gesetze kurz und knackig waren, wenige Seiten umfassten.

RGBl 1919 Reichsabgabenordnung
Die Reichsabgabenordnung im Reichsgesetzblatt von 1919
Quelle: Public Domain

Nach der heutigen Selbstdarstellung der deutschen Behörden sollte die Reichsabgabenordnung als „Mantelgesetz“ Grundlagen für eine moderne Finanzverwaltung und Steuererhebung schaffen. Sie sollte gemeinsame Vorschriften enthalten, Widersprüche zwischen bisherigen Besteuerungen ausgleichen und Lücken beseitigen. Laut Bundesfinanzministerium war die Reichsabgabenordnung „von vornherein auf einen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen dem Staat als Steuergläubiger und dem Bürger als Steuerzahler ausgerichtet“.

Verfasst hatte die Reichsabgabenordnung von 1919 im Wesentlichen ein Oldenburger Jurist namens Enno Becker (1869 bis 1940). Seine Schöpfung blieb trotz zahlreicher und oft jährlich neuer Steuergesetze bis zum 31. Dezember 1976 in Kraft, also 57 Jahre lang. Dann trat die neue „Abgabenordnung 1977“ an ihre Stelle, die seither die Grundlage des deutschen Steuerrechts darstellt.

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Doch die Basis für das komplizierte deutsche Steuerrecht schuf schon das Gesetz von 1919. Hintergrund war, dass die demokratische Reichsregierung angesichts des Schuldenberges, den der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte, sowie der absehbar immensen Reparationsforderungen der Siegermächte dringend eigener und deutlich höherer Einkünfte als bisher bedurfte.

Der SPD-Politiker und erste Reichspräsident (1919-1925) der Weimarer Republik Friedrich Ebert. Er wurde am 4. Februar 1871 in Heidelberg geboren und ist am 28. Februar 1925 in Berlin gestorben. Undatierte Aufnahme. | Verwendung weltweit
Der erste Reichspräsident Friedrich Ebert
Quelle: picture-alliance / dpa

Das Steuersystem im Kaiserreich hatte im Wesentlichen auf Gewerbe- und Verbrauchssteuern beruht, die beide von den jeweiligen Königreichen, Fürstentümern und anderen Teilstaaten des Reiches erhoben wurden. Die Einkommensteuer dagegen, erstmals im deutschen Sprachraum 1811 in Ostpreußen zur Finanzierung der Befreiungskriege gegen Napoleon eingeführt, wurde 1851 sowie 1891 modernisiert und auf Sätze zwischen 0,6 Prozent für Einkommen oberhalb des Existenzminimums von 900 Goldmark jährlich und vier Prozent für höchste Einkommen jenseits von 100.000 Goldmark jährlich festgesetzt.

Doch für die in der Weimarer Republik sehr viel wichtigere zentrale Reichsregierung waren Beträge notwendig, die weit oberhalb der so zu erhebenden Mittel lagen. Deshalb war es die wichtigste Aufgabe des Zentrum-Politikers Matthias Erzberger als erster Reichsfinanzminister, eine umfassende Finanzreform einzuleiten.

Er schätzte 1919 den mittelfristigen jährlichen Finanzbedarf des Reiches auf mindestens 25 Milliarden Goldmark, mehr als das Zehnfache von 1913. Von dieser Summe sollten 17,5 Milliarden Goldmark die Aufgaben des Reiches entfallen, 5,3 Milliarden Goldmark würden die Länder überwiesen bekommen, um ihre Aufgaben zu erfüllen, die sie bis dahin mit selbst erhobenen Steuern bezahlt hatten, die nun wegfallen sollten. 2,2 Milliarden Goldmark setzte Erzberger für die Bedienung der erwarteten Reparationsforderungen der Siegermächte vor – eine viel zu optimistische Annahme, wie sich bald zeigte.

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Quelle: WELT/Dominic Basselli

Doch noch größer als diese außenpolitische Ungewissheit wogen innere Probleme: „Die Voraussetzung für die gesellschaftliche Akzeptanz von weiteren Belastungen durch Ausweitung der Reichssteuern war die Gleichmäßigkeit im Vollzug der Steuergesetze sowie deren soziale Ausgewogenheit“, stellt das Bundesministerium für Finanzen in einer kurzen Ausarbeitung zum 100. Jahrestag der Reichsabgabenordnung fest. „Hierbei spielten eine soziale Lastenverteilung nach wirtschaftlichem Leistungsvermögen, die Hebung der Steuermoral und die Verhinderung von Steuerflucht eine zentrale Rolle.“

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Das klingt einfacher, als es war. Enno Becker beklagte sich, er müsse „aus der Luft, aus dem Nichts oder doch auf völlig unzureichenden und unerforschten Grundlagen“ ein Steuergesetz entwerfen, „das tief in die Wirtschaft eingreift“. Tatsächlich schuf er seinen Entwurf einigermaßen freihändig – es hatte im Kaiserreich so viele gegensätzliche Regelungen gegeben, dass jeder Ansatz zur Vereinfachung Partikularinteressen verletzte.

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Beinahe täglich tagten von Ende September bis Ende Oktober 1919 die zuständigen Ausschüsse der Nationalversammlung und überarbeiteten den ersten Entwurf. Binnen nur einer Woche brachten die Mehrheitsfraktionen dann im November das Gesetz in zwei Lesungen durch das Parlament. Der Reichsrat, die Kammer der Länder, stimmte am 13. Dezember 1919 zu. Reichspräsident Friedrich Ebert unterzeichnete das Gesetz am selben Tag, das damit rechtzeitig vor dem Jahreswechsel in Kraft treten konnte.

Von Anfang an gab es jedoch auch Kritik. So bemängelte der Staatsrechtler Hans Nawiasky, dass Becker nur eine Rahmenordnung entworfen hatte, der weitere Regelungen folgen sollten. Vor allem liberale Experten fanden hingegen, dass der Bürger in Steuerangelegenheiten weiterhin viel zu sehr Untertan sei, als es in einem Staat angemessen sein könne, dessen erster Verfassungsartikel festlegte: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“

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Der Grund für die seit 1919 immer weiter ausufernde Komplexität des deutschen Steuerrechts lag jedoch in dem – von vorneherein aussichtslosen – Bemühen, es allen Teilen der Bevölkerung recht zu machen, möglichst viele der hergebrachten Partikularinteressen zu berücksichtigen. In den Worten des heutigen Finanzministeriums: einen „ausgewogenen Interessenausgleich zwischen dem Staat als Steuergläubiger und dem Bürger als Steuerzahler“ zu erreichen.

Dieses Bemühen um eine nur theoretisch erreichbare gefühlte „Gerechtigkeit“ führte zu all den komplexen Regelungen, Ausnahmen und Sondertatbeständen, die schon in Enno Beckers Reichsabgabenordnung angelegt waren und die fortan das deutsche Steuerrecht wuchern ließen. Übrigens umfasst die bis heute im Grundsatz geltende Abgabenordnung von 1977 nicht mehr 107, sondern 181 deutlich enger bedruckte Seiten – und die bereits verabschiedete 2025 in Kraft tretende nächste Änderung füllt allein 55 Seiten.

1921 ermordeten rechtsextreme Terroristen Matthias Erzberger. Allerdings war ihr Motiv nicht seine Rolle bei der Neuordnung der Reichsfinanzen, sondern seine Unterschrift unter dem Waffenstillstand vom 11. November 1918. Die hatte zwar der damalige „starke Mann“ der Obersten Heeresleitung, Erich Ludendorff, verlangt, inzwischen Kopf der rechtsextremen Republikgegner – aber getötet wurde dafür der Demokrat Erzberger.

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