Der Mörder kam durch den Schnee. Am späten Abend des 19. Dezember 1980 klingelte er in einem bürgerlichen Ortsteil von Erlangen am Haus seiner Zielperson. Als Shlomo Levin öffnete, feuerte der Täter sofort. Zuerst traf er den Rabbiner und Verleger in den Unterarm, dann in den Kopf, schließlich in die Brust und erneut in den Kopf. Der Gerichtsmediziner stellte später fest, dass erst die dritte Kugel tödlich war. Danach ging der Täter ins Wohnzimmer des Bungalows und feuerte viermal auf die Lebensgefährtin Levins, Friederike Poeschke.
„Man wollte töten“, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt vor Zeugen. Das war tatsächlich unübersehbar. Nur: Warum? Ein kaum zu übersehendes Indiz führte die 37 Ermittler einer Sonderkommission schließlich auf die richtige Fährte. Denn neben Schlomo Levins Leiche lag eine hellblaue Damensonnenbrille.
Sie konnte dank des eher seltenen Modells der 34-jährigen Franziska B. zugeordnet werden. Sie war zum Zeitpunkt der Tat die Freundin des Rechtsextremisten Karl-Heinz Hoffmann, dessen terroristische Wehrsportgruppe Hoffmann Anfang 1980 verboten worden war. Außerdem fand man am Bungalow von Levin eine Perücke, in der ein echtes Haar der Verdächtigen klebte, sowie einen Fußabdruck, der ihr zugeordnet werden konnte.
Franziska B. war also am Tatort gewesen, während oder unmittelbar nach der Tat. Geschossen hatte sie jedoch nicht. Das tat den Erkenntnissen der Ermittler zufolge Uwe Behrendt, ein 29 Jahre altes Mitglied der neonazistischen Wehrsportgruppe. Er floh in den Libanon und beging hier 1981 unter ungeklärten Umständen Selbstmord.
Insgesamt fielen seit 1945 in Deutschland fast 200 Menschen rechtsextremer Gewalt zum Opfer. Die allermeisten von ihnen waren Ausländer, oft Flüchtlinge oder Asylbewerber, einige auch Obdachlose – Zufallsopfer, die von Extremisten angegriffen wurden, weil diese ihren Hass auslebten.
Hingegen waren nach dem Zweiten Weltkrieg Attentate rechtsextremer Straftäter auf prominente Persönlichkeiten eher selten. Bislang das letzte Opfer eines solchen politisch motivierten, gezielten Anschlages war Schlomo Levin 1980. Bislang, denn falls sich der gegenwärtige Fahndungsansatz der hessischen Polizei bewahrheitet und tatsächlich ein jetzt inhaftierter 45-jähriger Rechtsextremist der Täter im Mordfall Walter Lübcke gewesen sein sollte, würde sich das ändern.
Jedenfalls hat bereits der Generalbundesanwalt die Leitung des Verfahrens an sich gezogen – gewöhnlich ein deutlicher Hinweis auf mutmaßlich extremistische Hintergründe einer Tat. Denn zuständig ist der höchste Ankläger der Bundesrepublik nur in Fällen von besonders gefährlicher staatsgefährdender Kriminalität; normalerweise ist die Strafverfolgung ebenso wie die Polizei Ländersache.
Rechtsextreme Gewalt und als ihre Steigerung rechtsextremer Terrorismus sind seit Jahrzehnten ein genauso großes Problem in der Bundesrepublik wie linksextreme Verbrechen. Allerdings unterscheiden sich Tatmuster und Ziele deutlich.
Rechte Gewalt richtet sich im überwiegenden Teil der Fälle gegen Menschen nicht deutscher Herkunft. Der Mord an der Streifenpolizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007 war eine Ausnahme innerhalb der Verbrechensserie der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Die übrigen neun ausgeführten Mordanschläge nämlich galten meist türkischen Immigranten, ebenso der Bombenanschlag in Köln-Mülheim 2004.
Linksextreme Gewalt dagegen richtet sich in auffallend vielen Fällen direkt gegen Polizisten und Soldaten – jedes zweite Opfer der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) zwischen 1970 und 1991 war ein Vertreter der Staatsgewalt. Auch die beiden Todesopfer der „autonomen“ Demonstrationen gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen 1986 waren Polizisten, ebenso wie sieben dabei teilweise schwer Verletzte. Entgegen oft zu lesenden Behauptungen richtete sich linksextremer Terrorismus eben nicht nur gegen herausragende Repräsentanten der Wirtschaft oder des Staates: Die RAF brachte insgesamt sieben solche Opfer um – genauso viele wie ihre Anschläge Tote unter völlig unbeteiligten Zivilisten forderten.
Das ist ein deutlicher Unterschied zur rechtsextremen Gewalt vor 1933. Damals griffen völkische und antisemitische Attentäter besonders oft führende Politiker des linken und liberalen Spektrums an. Die bekanntesten, aber bei Weitem nicht einzigen Beispiele sind Reichsaußenminister Walter Rathenau 1922, Bayerns sozialistischer Ministerpräsident Kurt Eisner 1919 und der ehemalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger 1921.
Zehn folgenreiche Attentate des 20. Jahrhunderts
Sollte sich bewahrheiten, dass Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten gezielt aus politischen Gründen umgebracht wurde, so würde die Liste der ermordeten Politiker um einen Namen länger. Gegenwärtig aber handelt es sich offenbar erst um einen Verdacht.
Franziska B. wurde wegen Beihilfe zum Doppelmord an Shlomo Levin und Friederike Poeschke angeklagt, jedoch genügten die Indizien nicht. Da der Täter tot war, konnte sie 1984 lediglich für andere Delikte wie Geldfälschung zu sechs Monaten Haft verurteilt werden. Ihr Freund Karl-Heinz Hoffmann, der nach Ansicht der Ermittler den Mord in Auftrag gegeben haben sollte, erhielt zwar neuneinhalb Jahre Gefängnis, aber ebenfalls wegen weiterer Delikte, nicht wegen der Tat in Erlangen.