Am fünften Jahrestag der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) durch einen Rechtsextremisten hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) jede und jeden dazu aufgerufen, gegen Hass und Gewalt einzuschreiten. „Wer andere beleidigt, bedroht oder herabwürdigt, der muss überall auf Widerspruch stoßen“, sagte Scholz in seinem am Sonntag veröffentlichten wöchentlichen Video-Podcast „Kanzler kompakt“. „Wir alle sind gefordert.“
Lübcke habe sich dafür eingesetzt, dass Flüchtlinge anständig versorgt werden, sagte Scholz. Für dieses Engagement sei er angefeindet worden, im Internet an den Pranger gestellt, zur Zielscheibe gemacht. „Und schließlich ermordet.“ Dieses Verbrechen erschüttere ihn bis heute, sagte Scholz.
Der CDU-Politiker war in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha (Landkreis Kassel) von dem Rechtsextremisten Stephan Ernst erschossen worden. Der Mörder wurde am 29. Januar 2021 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ob er tatsächlich als Einzeltäter handelte, konnte nicht abschließend geklärt werden.
Der Kanzler erinnerte in seiner Rede auch an den Anschlag der rechtsextremistischen Zelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in der Kölner Keupstraße vor 20 Jahren, bei dem 22 Menschen verletzt worden waren. Der NSU wollte „Frauen, Männer und Kinder ermorden, bloß weil sie oder ihre Eltern nicht hier in Deutschland geboren wurden“, sagte Scholz. Die Neonazis des NSU hatten „eine Bombe gelegt, mit der sie töten wollte“.
Auch in diesen Tagen häuften sich Anfeindungen, Angriffe und Beleidigungen, sagte Scholz. „Über 60.000 politisch motivierte Straftaten haben unsere Sicherheitsbehörden im vergangenen Jahr erfasst. Das ist ein neuer, trauriger Höchststand.“ Über 60.000-mal hätten Frauen und Männer Rassismus, Judenhass, islamistische Gewalt, Rechtsextremismus und Linksextremismus zu spüren bekommen. Das seien „mehr als 60.000 Angriffe auf unser friedliches Zusammenleben“.
Lokalpolitiker, Bürgermeister und Ehrenamtliche würden bedroht, Polizisten, Rettungssanitäter oder Feuerwehrleute angegriffen. Es sei nicht immer einfach, gegen den Hass einzuschreiten, räumte der Kanzler ein. Aber nur so „kommen wir an gegen den Hass, der Herzen vergiftet und Hirne vernebelt“. Die Mehrheit der Anständigen – „die große Mehrheit in unserem Land“ – müsse unübersehbar und unüberhörbar sein, appellierte Scholz.
Am Sonntagvormittag luden zudem das Regierungspräsidium Kassel, die Evangelische Kirchengemeinde Kassel-Mitte und der Verein „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“ zu einer Gedenkfeier ein. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte den CDU-Politiker dort als Kämpfer für die Grundwerte der Bundesrepublik. „Wir wissen nicht, ob der Mord an Walter Lübcke hätte verhindert werden können“, sagte er. „Aber wir wissen, dass wir nicht genug getan haben, um die Gefahr abzuwenden.“
Lübcke hätte sich über Bilder von Demos gegen rechts gefreut, sagt Steinmeier
Zur Vorgeschichte des Mordes an Lübcke gehöre das „Versäumnis des Staates, die furchtbare Gefahr des Rechtsterrorismus in ihrer ganzen Dimension zu erkennen“. Zudem hätten Extremisten von den zunehmend aufgeheizten politischen Debatten profitiert: „Sie versuchen, mit Worten einzelne Gruppen zu entmenschlichen, um das Ventil für Hass zu öffnen und auch, um Angst und Terror in diesen Gruppen zu verbreiten.“
Jeden Tag seien Versuche zu erleben, „mit Worten die Skala des Anstands, den Konsens unserer Werte zu verschieben“, sagte der Bundespräsident. Allerdings seien die jüngsten Massendemonstrationen gegen Rechtsextremisten im ganzen Land ein ermutigendes Zeichen. Auch Lübcke hätte sich über die Bilder von diesen Kundgebungen gefreut.
Die Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Beate Hofmann, sagte, die Tat habe in der Region tiefe Spuren hinterlassen. Lübcke sei ermordet worden, weil er die Aufnahme von Flüchtlingen entschieden verteidigt habe: „Als Christ folgte er einem klaren moralischen Kompass: Wer vor Krieg, Gewalt oder Hunger flieht, muss geschützt werden.“ Die Gesellschaft dürfe sich von Extremisten nicht einschüchtern lassen.
Straße in Berlin vorübergehend in Dr.-Walter-Lübcke-Straße umbenannt
Das Internationale Auschwitz Komitee (IAK) erinnerte in Berlin mit der zeitweisen Umbenennung einer Straße in Berlin an Lübcke. Auch im Rahmen des 75. Jubiläums des Grundgesetzes wolle man damit „ein Zeichen der Erinnerung im umkämpften öffentlichen Diskurs und im öffentlichen Raum setzen“, teilte das Komitee dazu vorab mit. Dazu wurde am Sonntagvormittag für eine halbe Stunde die Joachim-Friedrich-Straße in Charlottenburg-Wilmersdorf in Dr.-Walter-Lübcke-Straße umbenannt.
Neben den Mitgliedern des Komitees nahmen den Angaben nach auch Auszubildende der Volkswagen AG aus Braunschweig und Salzgitter teil. Sie beteiligten sich in den nächsten zwölf Tagen auch an einem Projekt in der Gedenkstätte Auschwitz, hieß es. Mit der Aktion sollte den Angaben nach auch auf die steigende Gewaltbereitschaft seit dem Mord an Lübcke gegenüber Politiker und Politikerinnen aufmerksam gemacht werden. Die Aktion des IAK soll weitere Gemeinden, Städte und Schulen dazu ermutigen, ähnliche Aktion anzugehen und den öffentlichen Raum demokratisch zu gestalten, hieß es.