Die meisten Leser dürften überrascht gewesen sein, als sie am 13. Januar 1953 die „Prawda“ in die Hand nahmen. Denn auf der Titelseite des KPdSU-Zentralorgans und damit des wichtigsten Sprachrohrs der sowjetischen Führung stand an diesem Dienstag eine erschreckende Schlagzeile zu lesen: „Bösartige Spione und Mörder unter der Maske akademischer Ärzte.“
Im Artikel dazu hieß es, mindestens ein Dutzend Ärzte hätten „sich das Ziel gesetzt, durch schädliche Behandlungsmethoden das Leben führender Persönlichkeiten der Sowjetunion zu verkürzen“. Vor einiger Zeit habe, wie die sowjetische Nachrichtenagentur Tass mitteilte, das Ministerium für Staatssicherheit diese „terroristische Medizinergruppe entlarvt“. Neun Personen seien verhaftet worden, darunter ein gewisser Professor Wladimir N. Winogradow: Stalins Leibarzt.
Felix Dserschinski, Gründer der Tscheka
Das war zwar verrückt, aber noch nicht besonders erstaunlich in einem Land, über das seit der Oktoberrevolution 1917 eine Terrorwelle nach der anderen geschwappt war, mit manchmal wenigen Dutzend, manchmal Millionen Opfern. Erstaunlich jedoch war ein weiterer Satz weiter unten in dem Artikel: „Die Mehrzahl der Mitglieder der Terroristengruppe stand mit ,Joint‘ in Verbindung.“
Und natürlich wurde erläutert, was diese ominöse Gruppe angeblich war: „eine internationale jüdische bürgerlich-nationalistische Organisation, die von der CIA angeblich zur materiellen Unterstützung von Juden in anderen Ländern geschaffen wurde, in Wirklichkeit jedoch unter Leitung amerikanischer Spione in verschiedenen Ländern, darunter der Sowjetunion, umfassend spionierte, terrorisierte sowie andere Zersetzungsarbeit leistete“.
Juden also. Knapp acht Jahre nach der Niederlage des Dritten Reiches machte Stalin auf einmal den Hitler, lancierte eine antisemitische Verschwörungstheorie und ließ prominente Juden festnehmen. Was steckte dahinter? Und vor allem: War an den Vorwürfen etwas dran? Waren die neun Mediziner und weit über hundert weitere, zum größten Teil jüdische Sowjetbürger Teil einer westlichen Geheimdienstattacke auf Stalin?
„Neues Deutschland“ hetzte gegen „wurzellose Kosmopoliten“
Die Wendung des kommunistischen Blocks gegen Juden kam nicht wirklich überraschend. Schon Anfang 1948 waren alle explizit jüdischen Einrichtungen in der UdSSR aufgelöst worden, gab es einige mysteriöse Todesfälle prominenter jüdischer Sowjetbürger, die natürlich nie aufgeklärt wurden. Stalins antisemitische Kampagne machte nicht einmal vor der jüdischen Frau seines Außenministers Molotow halt, die für mehrere Jahre nach Sibirien verbannt wurde. Sowjetische (und ebenso ostdeutsche) Zeitungen hetzten ein gutes Jahr später gegen „wurzellose Kosmopoliten“, das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ zum Beispiel am 21. Juli 1949.
Es folgten mehrere Schauprozesse gegen abgesetzte kommunistische Funktionäre, die oft jüdische Wurzeln hatten oder sich prozionistisch geäußert hatten. In Prag wurden im Zuge des Slansky-Prozesses 13 ehemalige Spitzenfunktionäre Ende 1952 hingerichtet, davon elf, die aus jüdischen Familien stammten. In der DDR wurde das Mitglied des SED-Politbüros Paul Merker von der Stasi eingekerkert – er hatte, obwohl selbst aus einer protestantischen Familie stammend, eine Entschädigung jüdischer Organisationen und Hinterbliebenen des Holocaust angeregt.
Deshalb schrieben internationale Zeitungen schon vor dem 13. Januar 1953 über zunehmenden Antisemitismus im Ostblock. Die „Times of India“ etwa berichtete am 4. Januar über „Zeichen einer Juden-Hetze“ in der Sowjetunion, der „Manchester Guardian“ berichtete einen Tag später über die „jüngste Säuberung“ und erwähnte, dass sie sich gegen jüdische Funktionäre richtete. Die „South China Morning Post“ in Hongkong schrieb am 9. Januar: „Juden auf der Flucht“.
Den „Prawda“-Bericht vom 13. Januar griffen die großen US-Zeitungen noch am selben Tag prominent auf. Die „New York Times“ zum Beispiel widmete dem Thema fast eine ganze Spalte auf der Titelseite und einen weiteren Text auf der fünften Seiten; in den folgenden Tagen es ein halbes Dutzend weitere Berichte sowie unter der Überschrift „Sowjetischer Antisemitismus“ einen Leitartikel.
„Das Stalin-Regime hat sich ein weiteres Mal auf Hitlers Buch berufen und den Antisemitismus als Waffe für seine internen Auseinandersetzungen entdeckt und als Instrument gleichermaßen für den internationalen Kommunismus wie für den sowjetischen Imperialismus“, hieß es in dem traditionell nicht namentlich gekennzeichneten Kommentar. Wie einst Hitler benütze auch Stalin den Antisemitismus für verschiedene Zwecke: Natürlich, um Druck auf Juden auszuüben, aber ebenso, um Schuldige für die innenpolitische Misere zu präsentieren. Schließlich, um eine antiisraelische Kampagne zu starten.
Aus dem privaten Fotoalbum des Diktators Stalin
In Moskau und anderen Städten wurden derweil Hunderte weitere Menschen unter hanebüchenen Vorwürfen verhaftet, eingekerkert, verhört und vielfach gefoltert. Sie sollten verantwortlich sein unter anderem für den Tod führender Parteifunktionäre wie Andrei Schdanow und Alexander Schtscherbakow sowie für lebensbedrohliche Erkrankungen von Spitzenmilitärs wie der Marschälle Alexander Wassilewski, Leonid Goworow und Iwan Konew.
Die Art der Vorwürfe und ihre innere Unlogik sorgten weltweit für Irritationen und Sorgen. So war „Joint“, das angebliche Geheimdienstnetz, in Wirklichkeit eine humanitäre Organisation. Ihr voller Name lautete American Jewish Joint Distribution Committee; ihre Aufgabe war gerade nach der Katastrophe des Holocaust die Unterstützung von jüdischen Flüchtlingen in aller Welt.
Die internationale Aufmerksamkeit hatte möglicherweise Folgen: Am 9. Februar 1953 ereignete sich auf dem Gelände der sowjetischen Botschaft in Tel Aviv eine Explosion, offenbar ein Anschlag radikaler israelischer Juden, um Protest zu dokumentieren. Zwei Tage später brach die UdSSR die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab.
Stalins Hungerpolitik in Kasachstan
Ungefähr zur gleichen Zeit drängte Stalin prominenten Sowjetbürger mit jüdischen Wurzeln, einen Bittbrief zu schreiben. Sie sollten vorschlagen, Juden aus den großen Städten aufs Land zu deportieren, um sie vor angeblich drohenden Pogromen zu „schützen“. Nach allerdings nur einem einzigen Zeitzeugen war zunächst die Deportation von „Volljuden“ vorgesehen, anschließend sollten „Halbjuden“ folgen. Dokumente darüber gibt es allerdings offenbar nicht.
Sicher ist hingegen, dass sich der Diktator in der zweiten Februarhälfte 1953 täglich die Protokolle der nächtlichen Verhöre vorlegen ließ, denen viele der Verhafteten unterzogen wurden. Er machte sich schon Gedanken über den Schauprozess, der folgen sollte, und die anschließende öffentliche Erschießung der Verurteilten auf dem Roten Platz; beides sollte im März stattfinden. Doch dazu kam es nicht mehr.
Denn Ende Februar 1953 verschlechterte sich Stalins Gesundheitszustand rapide. Auf die Empfehlungen seiner Ärzte hatte er noch nie viel gegeben, aber nun kümmerten sich vor allem noch Leibwächter und zwei Haushälterinnen um ihn, die aber alle panische Angst vor seinen unerklärlichen Wutausbrüchen und seiner unstillbaren Bösartigkeit hatten. In der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März erlitt er, nach einem langen Abendessen mit Lawrenti Beria, Nikolai Bulganin, Nikita Chruschtschow und Georgi Malenkow, allein in seinem Wohnzimmer in seiner Staatsdatscha in Kunzewo bei Moskau, einen Schlaganfall.
Da er sich nicht meldete, störte ihn auch niemand. So kam es, dass Stalin erst am Abend des 1. März gegen 22 Uhr endlich von den eingeschüchterten Helfern gefunden wurde. Er lebte noch, war aber gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Ein sterbendes Wrack. Und es gab keine kompetenten Ärzte mehr, die ihm helfen konnten – die saßen ja in Haft.
Wenige Stunden später wurde die antisemitische Kampagne in der „Prawda“ gestoppt – von wem, ist nicht ganz klar. Stalin starb, nach tagelangem Siechtum, am Abend des 5. März 1953. Wenige Tage später erklärte die Übergangsführung aus Beria, Chruschtschow, Malenkow und Bulganin, dass die Vorwürfe gegen die jüdischen Mediziner vollständig von Stalin erfunden worden seien; der Fall wurde am 31. März niedergeschlagen, die Verhafteten drei Tage später freigelassen, darunter Winogradow. So endete die Ärzteverschwörung, die letzte Terrorwelle des Stalinismus, tatsächlich ohne unschuldige Todesopfer.
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