Der Diktator Stalin hatte ein langes Gedächtnis. Wer ihm einmal in die Quere gekommen war, den vergaß er nie, selbst wenn er ihn wie Michail Tuchatschewski (1893–1937) 1935 zum Marschall der Sowjetunion beförderte. Nur zwei Jahre später ließ er ihn von der Tscheka verhaften und nach einem Schauprozess am 12. Juni 1937 hinrichten. Fast die gesamte Führung der Roten Armee sollte dem Marschall folgen.
Tuchatschewski war in vielem das Gegenteil von Stalin. Er entstammte altem russischem Adel, erhielt eines standesgemäße militärische Ausbildung und soll seinen Mitschülern selbstbewusst erklärt haben: „Wenn ich nicht mit 30 Jahren General bin, begehe ich Selbstmord!“ Davor bewahrte ihn die Oktoberrevolution. Denn 1917 war aus dem Unterleutnant gerade einmal ein hochdekorierter Hauptmann geworden. Mit seinem Beitritt zur siegreichen Partei signalisierte er den Bolschewiki, dass er zur Kollaboration bereit war.
Trotzki, der als Volkskommissar für die Verteidigung die Rote Armee für den Bürgerkrieg organisierte und keine Scheu hatte, zarische Offiziere in Dienst zu nehmen, erkannte das Talent Tuchatschewskis. Gerade 25 Jahre alt, wurde er zum Kriegskommissar der Moskauer Sektion und Befehlshaber einer Armee berufen. 1920 führte er im Krieg gegen Polen die sowjetische Westfront.
Dass es den Polen gelang, die Rote Armee an der Weichsel zu stoppen, lag nicht zuletzt an Stalin. Als Kommissar der Ersten 1. Reiterarmee von Semjon Budjonny in der Ukraine zögerte er die Unterstützung für Tuchatschewski so lang hinaus, bis dieser wegen offener Flanken und überdehnter Logistik den Rückzug antreten musste. Lenin tobte und machte Stalin für die Katastrophe verantwortlich, der nur mit Mühe seine Position im engsten Führungskreis halten konnte, während der Rivale spätestens mit der Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands zum „Roten Napoleon“ aufstieg.
Das vergaß Stalin dem „Napoleontschik“, wie er ihn nannte, nie. Hinzu kam, dass dieser als Gefolgsmann Trotzkis galt, den Stalin in den Diadochenkämpfen nach Lenins Tod zum Lieblingsfeind erkoren hatte. Zwar ließ der Generalsekretär Tuchatschewski als Organisator und Generalstabschef der Roten Armee gewähren. Aber bereits 1930 entwarf er eine Intrige, ihn als „Putschisten“ zu stürzen, verfolgte die Sache aber zunächst nicht weiter.
Tuchachtschewskis Aufstieg ging weiter. Er wurde stellvertretender Verteidigungsminister, Kandidat des Zentralkomitees, erhielt den Leninorden. Mehr als das provozierten dessen Pläne zum Aufbau motorisierter Truppen den Widerstand von Budjonny und anderen, die immer noch in Kategorien des Ersten Weltkriegs dachten.
Am 26. Mai 1937 wurde Tuchatschewski wegen „trotzkistischer Umtriebe“ und „Spionage für eine fremde Macht“ festgenommen. Umgehend machten sich erfahrene Tschekisten daran, dem Gestürzten die Unterschrift unter ein entsprechendes Geständnis abzupressen, in dem er bestätigte, als „Marionette der Deutschen“ gehandelt zu haben, und die Konsequenzen akzeptierte. Die Blutspritzer auf dem Papier darauf zeigten deutlich, mit welchen Methoden dies gelang. Stalin war derart beschäftigt von seiner Intrige, dass er sich sogar beim Begräbnis seiner Mutter vertreten ließ.
Am 11. Juni verhandelte ein Militärtribunal den Fall, der wie nicht anders zu erwarten mit dem Todesurteil endete. „Mir kommt das alles vor wie ein böser Traum“, soll Tuchatschewski seinen Henkern erklärt haben. Am Morgen des 12. Juni wurde das Urteil mit einem Kopfschuss vollstreckt.
Das war erst der Anfang. In den folgenden Säuberungen ließ Stalin neun von zehn Generälen und acht von zehn Obersten als „Spione“, „Putschisten“ oder „Konterrevolutionäre“ erschießen. Der Verlust fast ihrer gesamten Führung war einer der Gründe für die schweren Niederlagen der Roten Armee bei der Invasion Finnlands 1940 und nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht 1941.
Dieser Artikel erschien erstmals im Juni 2021.