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Geschichte Erster Weltkrieg

Nachts fraßen Wölfe die Toten der Winterschlacht

Im März 1915 endete die Winterschlacht in den Karpaten. Ein Jahr vor Verdun offenbarte sie die Apokalypse des Maschinenkrieges. Die Verluste und Folgen für Österreich waren katastrophal.
Freier Autor Geschichte
Österreichisch-ungarische Truppen im Winter 1915 in den Karpaten: Die Belagerung von Przemyśl endete mit einer schweren Niederlage Österreichisch-ungarische Truppen im Winter 1915 in den Karpaten: Die Belagerung von Przemyśl endete mit einer schweren Niederlage
Österreichisch-ungarische Truppen im Winter 1915 in den Karpaten: Die Belagerung von Przemyśl endete mit einer schweren Niederlage
Quelle: picture alliance / akg-images

Als der Frühling des Jahres 1915 anbrach, war jener Krieg, in den seine Teilnehmer sieben Monate zuvor mit viel Hurra marschiert waren, vorbei. Alle Pläne hatten sich als Makulatur erwiesen. Statt kurzer Siegeszüge gebar er endlose Verlustlisten, statt schneidiger Attacken prägten Schützengräben sein Bild. Nur brachte keiner der Beteiligten den Mut auf, sich einzugestehen, dass der Krieg, auf den man sich seit Jahren vorbereitet hatte, zu Ende war.

Stattdessen tastete man sich in den industrialisierten Weltkrieg vor. Die Zahlen der schweren Geschütze wurden erhöht, leichtere Maschinengewehre erfunden, U-Boote gegen zivile Dampfer geschickt und mit Gasen als Waffe wurde experimentiert. Nur eine Großmacht beließ es bei den überkommenen Rezepten: Österreich-Ungarn setzte auf den dumpfen Mut des Verzweifelten. Etwas anderes war dem Habsburgerreich nach dem furchtbaren Winter nicht geblieben.

Lange bevor Verdun und Somme zu Symbolen der Materialkämpfe wurden, offenbarte die Winterschlacht in den Karpaten die apokalyptischen Dimensionen des modernen Krieges. Von Dezember 1914 bis April 1915 verlor die österreichische Armee mindestens 800.000 Soldaten durch Tod, Verwundung oder Gefangenschaft. Damit stiegen die Verluste auf mehr als 1.260.000 Mann an – zwei Millionen waren im August 1914 für Kaiser Franz Joseph in den Krieg gezogen.

Den moralischen Zustand der Überlebenden in den Karpaten beschrieb ein Zeitzeuge so: „Täglich erfrieren Hunderte; jeder, der sich nicht fortschleppen kann, ist unweigerlich dem Tode verfallen ... Die stumpfe Apathie und Gleichgültigkeit, die die Front immer mehr ergreift, ist nicht zu bannen.“ Von dem Großartigen und Verführerischen, von dem der Wiener Schriftsteller Stefan Zweig im Sommer zuvor geschwärmt hatte, war nichts übrig geblieben.

Franz Conrad von Hötzendorf (1852-1925) war als Generalstabschef für die österreichischen Planungen verantwortlich
Franz Conrad von Hötzendorf (1852-1925) war als Generalstabschef für die österreichischen Planungen verantwortlich
Quelle: picture alliance / Mary Evans Pi

Es gehört zu den Kuriosa des Jahres 1914, dass ausgerechnet das Land, das nach dem Attentat auf seinen Thronfolger in Sarajevo die Initialzündung für den Krieg gegeben hatte, am wenigsten auf ihn vorbereitet war. Österreich verfügte weder über einen detaillierten Kriegs- und Aufmarschplan noch über Vorstellungen vom feindlichen Aufmarsch oder ein Eisenbahnnetz, das schnelle Umgruppierungen ermöglicht hätte. K. u. k. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf teilte das Heer in drei Staffeln. Eine sollte sich der erwarteten russischen Offensive in Galizien entgegenstellen, eine andere das Strafgericht gegen Serbien exekutieren und die dritte als Reserve dienen. Sie wurde nach Süden in Marsch gesetzt.

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Absprachen, gar eine übergreifende Planung mit dem deutschen Verbündeten gab es nicht. Nur in einem war sich Conrad mit der deutschen Führung einig: Einen schnellen Aufmarsch der zarischen Armeen erwartete er nicht.

Die rasche Mobilisierung der Russen brachte die österreichische Führung unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück. Während übermütige Offiziere mit Champagner und ohne Karten nach Galizien aufbrachen, versuchte Conrad die nach Süden befohlenen Truppen der dritten Staffel nach Osten zu dirigieren. Das Ergebnis war ein Chaos, in dem sich die Soldaten mit klapprigen Bahnen kaum schneller bewegten, als wenn sie zu Fuß marschiert wären. Der Nachschub stockte.

Während die Deutschen in Ostpreußen durch kluges Ausnutzen der inneren Linie bei Tannenberg eine ganze russische Armee einschlossen, mussten sich die österreichischen Truppen nach schweren Niederlagen bald 240 Kilometer zurückziehen. Lemberg – das heutige Lwiw – musste aufgegeben werden. Schließlich ruhten alle Hoffnungen auf der Festung Przemyśl am San. Mit einer Besatzung von gut 100.000 Mann sollte sie als vorgeschobenes Bollwerk dienen, das die russischen Truppen so lange aufhalten sollte, bis sich die desolaten österreichischen Verbände wieder formiert haben würden.

Der Kriegsschauplatz in Galizien im Winter 1914/15
Der Kriegsschauplatz in Galizien im Winter 1914/15
Quelle: Infografik Die Welt

So kam es, dass – anders als im Westen – die Front zum Jahresende nicht in festen Grabensystemen erstarrte. Tatsächlich gelang es den Österreichern im November 1914, Przemyśl für einige Wochen zu besetzen. Umgehend wurden frische Truppen und Nachschub in die Garnisonsstadt gebracht. Dann brachte ein russischer Gegenangriff die österreichische Front erneut ins Wanken. Die Festung wurde eingeschlossen. Kommandant Hermann Kusmanek von Burgneustädten ließ errechnen, wie lange die Vorräte für die 130.000 Soldaten und 30.000 Zivilisten in der Stadt reichen würden: bis zum 28. Februar 1915.

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Damit hatte sich Conrad in eine fatale Lage gebracht. Anstatt in befestigten Stellungen auf Angriffe der Russen zu warten, musste er bei schwierigsten Wetter- und Geländebedingungen ein Ziel angreifen, das für alle Beteiligten offensichtlich war. Und das mit deutlich weniger Soldaten, als dem Gegner zur Verfügung standen, in einem Land, dessen Straßen und Bahnen nicht einmal im Sommer die Bewegungen derartiger Truppenmassen zuließen. Außerdem mussten unter allen Umständen die Karpatenpässe gehalten werden, über die die Russen nach Ungarn hätten vorstoßen können.

Da man den Krieg für eine kurzfristige Angelegenheit gehalten hatte, verfügten die meisten österreichischen Soldaten über keinerlei Winterausrüstung – bei Temperaturen von 25 Grad minus. Mit einer Mischung aus „kolossaler Selbstüberwindung“ (Conrad) und Offenbarungseid gelang es schließlich, vom deutschen Oberkommando einige Divisionen zur Unterstützung zu bekommen. Deren Führung verwies auf ihre Erfolge in Ostpreußen und beugte sich nur widerwillig den österreichischen Befehlen. Der Hochmut zerstob schnell unter den Bedingungen des Gebirgskrieges. So begann am 23. Januar die große Winterschlacht in den Karpaten.

Die Festungswerke von Przemyśl nach Abschluss der Kämpfe im März 1915
Die Festungswerke von Przemyśl nach Abschluss der Kämpfe im März 1915
Quelle: Wikipedia/public domain

Was sie für die 175.000 österreichischen und deutschen Soldaten bedeutete, vermitteln die Berichte von Überlebenden: Über schlechte Wege im tiefen Schnee schleppten sich die Kolonnen vorwärts. Tagelang gab es keine warme Verpflegung, keine Unterkünfte. Oft musste mit den schweren Geschützen das einzige Mittel zurückgelassen werden, das gegenüber den russischen Verteidigern eine Feuerüberlegenheit garantierte. Hinter jedem Einschlafen im Freien lauerte der Erfrierungstod. Bald machten Erinnerungen an Napoleons Katastrophe 1812 die Runde: „Dann kamen in der Nacht die Wölfe und befriedigten ihre Fresslust an den Eingeschlafenen ... So ähnlich mag es 1812 in Russland ausgesehen haben.“

Nachdem der erste Vorstoß gescheitert war, versuchte man es Ende Februar erneut. In Przemyśl wurden die letzten Pferde geschlachtet und Brote mit Birkenmehl gestreckt. Aber der Winter erwies sich als überlegener Gegner. „Im ganzen Angriffsraum kein Quartier, kein Mann konnte durch Tage und Wochen aus den Kleidern, die bei den meisten hart anliegende Eispanzer bilden; der steinhart gefrorene Boden hindert die Angreifenden, sich im feindlichen Feuer einzugraben ... Die Verwundeten gehen elend zugrunde“, schrieb ein Offizier, und ein anderer notierte: „Die Leute lassen sich einschneien, um einzuschlafen und nie mehr aufzuwachen. Andere exponieren sich, um getötet zu werden. Selbstmorde nehmen zu.“

Das Standardwerk: Manfred Rauchensteiner: „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie“. (Böhlau u. a. , Wien. 1222, 45 Euro)
Das Standardwerk: Manfred Rauchensteiner: „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie“. (Böhlau u. a. , Wien. 1222, 45 Euro)
Quelle: Böhlau

Zwar gab es noch genügend Männer, die – kaum ausgebildet – in Massentransporten an die Front geschafft wurden. „Dort verbrauchten sie sich rasant und schienen einen Vorgeschmack auf das abzugeben, was dann im Zusammenhang mit Verdun ,Blutpumpe‘ genannt worden ist“, urteilt der Wiener Historiker Manfred Rauchensteiner.

Nach dem Scheitern auch dieser Offensive trieb Kusmanek seine halb verhungerten Leute zu einem letzten Angriff. Er endete in einer „Burleske“, wie ein britischer Beobachter fand. Auf Przemyśl zurückgeworfen, ließ der Kommandant die Waffen zerstören und ergab sich am 22. März 1915. Da hatte ihn Conrad längst abgeschrieben.

Die Karpatenschlacht markierte in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt. Die epidemische Zunahme von Desertionen in tschechischen und südslawischen Verbänden ließ für die Entente die vollständige Auflösung Österreichs denkbar werden. Auch die Deutschen sahen das so und billigten dem Partner im Zweibund nur noch die Rolle des Juniorpartners zu. Ohne deutsche Unterstützung lief nichts mehr.

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Österreich hatte aufgehört, eine eigenständige Großmacht zu sein. Die Verluste an Menschen, Material und Moral konnten nie mehr aufgefüllt werden. In Italien gewann die Kriegspartei die Oberhand, die ihren Anteil am siechenden Kaiserstaat sichern wollte.

Vor allem aber zeigten sich in den Karpaten die Ausmaße, die der Krieg nehmen würde. Dass Hunderttausende nur zu einem Zweck fielen – damit das Sterben weitergehen konnte. Oder, wie Manfred Rauchensteiner resümiert: „Der Krieg näherte sich seiner Absolutheit.“

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