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Geschichte Erster Weltkrieg

Ihre Lungen füllten sich mit Körperflüssigkeit, sie ertranken innerlich

Im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs bereiteten deutsche Chemiker den ersten Einsatz von Giftgas vor. Eine Erfindung mit fürchterlichen Folgen. Es war die Geburt der modernen Massenvernichtungswaffen.
Leitender Redakteur Geschichte
Im Gaskrieg mussten alle Lebewesen geschützt werden, die militärische Bedeutung hatten – auch Maultiere. Nachträglich koloriertes Foto von 1917 Im Gaskrieg mussten alle Lebewesen geschützt werden, die militärische Bedeutung hatten – auch Maultiere. Nachträglich koloriertes Foto von 1917
Im Gaskrieg mussten alle Lebewesen geschützt werden, die militärische Bedeutung hatten – auch Maultiere
Quelle: picture alliance / akg-images

Die Wolke des Todes war knapp sechs Kilometer breit und grünlich. Wie eine Nebelwand trieb sie am späten Nachmittag des 22. April 1915 bald nach 18 Uhr über das Niemandsland zwischen deutschen und französischen Schützengräben nach Süden.

Zwischen den beiden flämischen Dörfer Poelkapelle und Steenstraate verlief die Hauptkampflinie fast genau in Ost-West-Richtung, als Teil des Frontbogens um die traditionsreiche Tuchhändlerstadt Ypern. Als der Wind aus nördlichen Richtungen auffrischte, drehten Soldaten des Pionierregiments 35 etwa 6000 in den Boden eingegrabene Gasflaschen auf.

Die Folgen waren fürchterlich. Die Franzosen wurden in ihren Stellungen vom Chlorgas völlig überrascht: „Mir war, als blickte ich in grünes Glas“, notierte ein französischer Sanitätsoffizier: „Gleichzeitig brannte mir das Gas in Hals und Brust. Ich bekam kaum Luft.“

Ein deutscher Angriff mit Giftgas-Unterstützung 1917 in Flandern. Nachträglich koloriertes Foto
Ein deutscher Angriff mit Giftgas-Unterstützung 1917 in Flandern. Nachträglich koloriertes Foto
Quelle: picture alliance / akg-images

Ob an der Vergiftung 500 oder 5000 Mann starben, ist zwar unklar – es kursieren verschiedenste Zahlen. Das Gift führte dazu, dass sie innerlich ertranken, ihre Lungen sich mit Körperflüssigkeit füllte. Ein bestialischer Tod.

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Unabhängig von der Zahl der Toten: Die übrigen Soldaten ergriffen die Flucht, ließen ihre Stellung zurück. Nach dem die Giftwolke vorübergezogen war und sich die Konzentration des Gases stark abgeschwächt hatte, rückten deutsche Truppen nach.

Doch auch sie verfügten nicht über ausreichend Schutz – und zögerten deshalb, ihren Vorteil auszunutzen. Trotzdem brachte der Gasangriff einen Geländegewinn von gut 20 Quadratkilometern, drei bis vier Kilometer Tief auf einer Breite von knapp sechs Kilometern, bei Weitem mehr, als erwartet worden war.

In Erwartung feindlicher Giftgasgranaten: Ein deutsches MG-Schützenpaar ungefähr 1918
In Erwartung feindlicher Giftgasgranaten: Ein deutsches MG-Schützenpaar ungefähr 1918
Quelle: picture alliance / akg-images

Deshalb standen nicht genügend Reserven bereit, um den Geländegewinn abzusichern. Denn auch der deutsche Generalstab war überrascht von der Wirkung des Gaseinsatzes. Der Erfolg blieb taktisch, eine Änderung der strategischen Lage in Nordwestbelgien erfolgte nicht.

Für die Entente-Mächte war es der „schwarze Tag von Ypern“. Für die Welt aber war es der die Geburt der modernen Massenvernichtungswaffen. Denn nichts anderes ist Giftgas.

Es war allerdings nicht der erste Einsatz von chemischen Kampfmitteln im Ersten Weltkrieg. Schon während der Marneschlacht hatten französische Einheiten mit Signalpistolen Tränengaspatronen in Richtung der deutschen Truppen gefeuert. Das nicht tödliche Gas, das für die Pariser Polizei entwickelt worden war, zeigte aber nicht den erhofften Erfolg: Im offenen Gelände verteile es sich viel zu schnell, um wirksam zu sein.

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Anders das Chlorgas, das schwerer als Luft war und deshalb zu Boden sank – dorthin, wo sich Soldaten in Schützengraben aufhielten. Fritz Haber, der deutsche Chemiker und spätere Nobelpreisträger, wusste das natürlich. Es gehörte zu den Gründen, gerade dieses Gift zu präferieren. Darüber war seine Frau Clara Immerwahr, ebenfalls Chemikerin, so verzweifelt, dass sie sich mit der Dienstwaffe ihres Mannes wenige Tage später selbst tötete.

Durch Giftgas erblindete britische Soldaten kommen im Lazarett an. Nachträglich koloriertes Foto von 1918
Durch Giftgas erblindete britische Soldaten kommen im Lazarett an. Nachträglich koloriertes Foto von 1918
Quelle: picture alliance / akg-images

Der deutsche Gefreite Willi Siebert, der den ersten Gasangriff genau verfolgt hatte, notierte in sein Tagebuch: „Wir fragten uns, was wir getan hatten. Wir wussten: Der heutige Tag würde alles verändern.“

Tatsächlich löste der 22. April 1915 ein chemisches Wettrüsten aus, dem im Ersten Weltkrieg rund 90.000 bis 100.000 Soldaten direkt zum Opfer fielen. Wie viele weitere, desorientiert von immer perfideren Gasen, nicht mehr genug auf Deckung achten konnten und von Granatsplittern zerfetzt oder von MG-Garben niedergemäht wurden, kann niemand sagen.

Massenvernichtungswaffen sind, einer gängigen neueren Definition zufolge, unkonventionelle Waffen von besonders hoher Zerstörungskraft. Offiziell rechnet man dazu chemische Gifte in jeder Form, außerdem künstlich in Umlauf gebrachte Krankheitserreger, Strahlung und natürlich Kernspaltungs- und Kernfusionswaffen.

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Doch fällt die Abgrenzung zu konventionellen Waffen nicht ganz leicht. Brandbomben zum Beispiel, die gezielt in Innenstädten einen Feuersturm auslösen, wie dies etwa in Dresden und Tokio 1945 oder im Koreakrieg 1950/51 geschah, können ganz ähnliche Verwüstungen und Opferzahlen hervorbringen wie Massenvernichtungswaffen.

Dennoch hält sich die Unterscheidung: Auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, das legt die US-Militärdoktrin fest, reagieren die USA notfalls mit atomaren Waffen. Diese Drohung hat bisher recht gut funktioniert, wenngleich nicht immer. Zuletzt wurde Giftgas offenbar im syrischen Bürgerkrieg eingesetzt, mit schrecklichen Folgen. Das erste Jahrhundert der Superwaffen geht jetzt zu Ende – und es wird, das kann man schon heute sagen, mit Sicherheit nicht das letzte gewesen sein.

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