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Geschichte Erster Weltkrieg

Wassermassen retten das letzte bisschen Belgien

Vor 100 Jahren ließ König Albert I. die Schleusen in Nieuwpoort öffnen. Es war die letzte Chance, die deutschen Truppen aufzuhalten. Jetzt kommt Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Gedenken.
Leitender Redakteur Geschichte
Ein überflutetes Feld südlich von Nieuwpoort im Ersten Weltkrieg, gespickt mit Stacheldraht und Tierkadavern Ein überflutetes Feld südlich von Nieuwpoort im Ersten Weltkrieg, gespickt mit Stacheldraht und Tierkadavern
Ein überflutetes Feld südlich von Nieuwpoort im Ersten Weltkrieg, gespickt mit Stacheldraht und Tierkadavern
Quelle: picture-alliance/Heritage Imag

Wenn nichts anderes mehr hilft, greift man zu verzweifelten Mittel. Schon mehr als neun Zehntel Belgiens waren Ende Oktober 1914 von deutschen Truppen besetzt; nur noch ein kleiner Zipfel im Nordwesten bei Ypern stand unter der Herrschaft des belgischen Königs. Trotzdem drängten die deutschen Truppen beim „Wettlauf zum Meer“ weiter vorwärts. Da entschied sich Albert I. zu einem verzweifelten Schritt: Er gab sein Einverständnis, große Landstriche zwischen Diksmuide und Ärmelkanal zu fluten.

Am Dienstagnachmittag erinnern der heutige belgische Monarch Philippe, der Urenkel von Albert I., und Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Festakt in Nieuwpoort an Flanderns Küste an diese schwierige Entscheidung. Doch der damalige König und seine militärischen Berater hatten wohl keine andere Chance, wollten sie ihr Land nicht völlig den gegnerischen Truppen überlassen.

Die Gegend nördlich von Diksmuide eignete sich besonders gut für einen solchen radikalen Schritt: Beiderseits des Yser-Kanals lagen von zahllosen kleinen Kanälen durchzogene, sehr niedrige Felder, meist trockengelegte frühere Sümpfe. Schleusen an den etwas größeren Flüssen und in Nieuwpoort verhinderten, dass das Land erneut überflutet wurde – entweder vom Süßwasser oder sogar, bei Flut, aus dem Ärmelkanal.

Ein gut erhaltener belgischer Schützengraben mit Sandsäcken voller Beton, gelegen in Diksmuide
Ein gut erhaltener belgischer Schützengraben mit Sandsäcken voller Beton, gelegen in Diksmuide
Quelle: picture-alliance/AP Photo

Die deutschen Truppen wussten um die strategische Bedeutung dieses nördlichsten Teils der Westfront. Wenn ihnen hier ein Durchbruch in das Hinterland der gegnerischen, von Belgiern, vor allem aber britischen und französischen Soldaten gehaltenen Linien gelingen würde, könnten sie den Feind umfassen und in eine Kesselschlacht zwingen. Also genau das, was sie ursprünglich laut dem modifizierten Schlieffen-Plan in Frankreich vorgehabt hatten, was aber in der Schlacht an der Marne Anfang September 1914 gescheitert war.

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Mehrfach attackierten sie erfolglos belgische Stellungen in Nieuwpoort und Diksmuide, dann konzentrierten sich die Angreifer auf das Zentrum dieses Frontabschnitts und versuchten, einen Übergang über den Yser-Kanal zu erzwingen. Am 22. Oktober gelang es ihnen, einen kleinen Brückenkopf auf dem westlichen Ufer zu erobern; auch eine Pontonbrücke wurde errichtet.

Drei Tage später zogen sich die alliierten Truppen hinter den Bahndamm zurück, der Diksmuide mit Veure verband. Die Niederlage unmittelbar vor Augen, stimmte Albert I. der Flutung der Yser-Ebene zu. Kurz zuvor war bereits südöstlich von Nieuwpoort ein kleineres Stück Land durch Öffnen von Schleusen unter Wasser gesetzt worden.

Das hatte gezeigt: Ein wirksameres Mittel, die deutschen Truppen aufzuhalten, gab es nicht: Die überfluteten Gebiete wurden rasch sumpfig und damit unpassierbar. Höchstens Menschen mit leichter Ausrüstung konnten sich hier noch bewegen, aber schon das Schleppen eines Maschinengewehrs war unmöglich. Kanonen oder Nachschub über geflutetes Gebiet zu transportieren? Unmöglich.

In der Hoffnung, nicht zu großen Schaden anzurichten, öffnete der vom König beauftragte Deichschutzbeamte Karel Cogge zunächst die Schleusen zu den Süßwasser führenden Flüssen und Kanälen. Doch auf diese Weise kam nicht genügend Wasser zusammen, um die Yser-Ebene vollständig zu fluten. Also blieb keine andere Möglichkeit, als Meerwasser auf die Felder vordringen zu lassen – obwohl sie damit auf Jahre hinaus für jede landwirtschaftliche Nutzung unbrauchbar werden mussten.

Am 29. Oktober 1914 ging Belgiens Armeeführung deshalb aufs Ganze: Mehrere Tage lang wurde jeweils bei Flut die Seeschleuse in Nieuwpoort geöffnet. Ein überaus gefährliches Unterfangen, denn es war unklar, ob sich die Wassermassen auf die Flächen an Yser-Kanal und Ijzerdijk beschränken würden – oder auch die Dämme Richtung Westen durchbrechen könnten.

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Das Risiko wurde belohnt. Am 1. November stand das gesamte bisherige Schlachtfeld unter Wasser, aber nicht die angrenzenden Gebiete. Die Deutschen mussten sich geschlagen geben und zogen ab. Um Diksmuide im Süden des überfluteten Gebietes wurde in den folgenden fast vier Jahren noch erbittert gekämpft, praktisch jedes Haus dem Erdboden gleichgemacht. Noch heute sieht man Reste von belgischen Schützengräben, meist verstärkt mit betongefüllten Sandsäcken, kreuz und quer durch den Boden verlaufen.

Das Friedenstor von Diksmuide (l.) und der zweite Yserturm (r.) erinnern an die Schlacht im Nordwesten Flanderns Ende Oktober 1914
Das Friedenstor von Diksmuide (l.) und der zweite Yserturm (r.) erinnern an die Schlacht im Nordwesten Flanderns Ende Oktober 1914
Quelle: picture-alliance/zb

Zur Erinnerung an diese wichtige Schlacht errichtete Belgien ab 1930 den Yserturm, ein Mahnmal für die Toten der Verteidigung von Diksmuide und Nordwestbelgien, der aber 1946 einem Sprengstoffattentat zum Opfer fiel. Heute steht ein zweiter Turm an fast derselben Stelle, 84 Meter hoch, und bietet einen hervorragenden Ausblick auf das ehemalige Schlachtfeld. Eine neue, kleinteilige Ausstellung in den einzelnen Geschossen erinnert an die mörderischen Kämpfe.

Zusammen mit dem hervorragenden, in Ypern gelegenen Museum „In Flanders Fields“ gehört der Yserturm zu den eindrucksvollsten Informationsorten über den Ersten Weltkrieg. Spürbar wird die Verzweiflung der damals Verantwortlichen, die ihr eigenes Land mit Meerwasser fluteten, um der totalen Niederlage zu entgehen.

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