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Meinung Nigel Farage

Der Unruhegeist

Nigel Farage in der Normandie, wo er den 80. Jahrestag des D-Day begleitete Nigel Farage in der Normandie, wo er den 80. Jahrestag des D-Day begleitete
Nigel Farage in der Normandie, wo er den 80. Jahrestag des D-Day begleitete
Quelle: picture alliance/empics/Aaron Chown
Er hat das Charisma eines Volkstribuns, ist Spaltpilz der Konservativen und Nemesis der Tories zugleich: Jetzt meldet Mr. Brexit Nigel Farage seine Rückkehr auf die politische Bühne an. Mit ungewissem Ausgang.
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Wahlkämpfe in Großbritannien sind von erstaunlich kurzer Dauer, als wollten die Wähler den politischen Kampfeslärm nicht über eine längere Strecke über sich ergehen lassen. Es liegen immer nur sechs Wochen zwischen dem Bekanntwerden des Wahltages und der heißen Phase der Auseinandersetzung.

Dass die Regierung innerhalb der fünfjährigen Legislaturperiode den Wahltag selber festlegen darf, bremst natürlich die auf Kampf eingestellten Gemüter gewaltig. Man will sein Pulver nicht zur falschen Zeit verschießen. Umfragewerte über die Lage der Parteien entfalten entsprechend erst innerhalb der heißen Sechs-Wochen-Frist ihre Brisanz, während sie bis dahin unter sanften Trommeltönen allenfalls zum Schlaf reizen.

Das hat sich schlagartig am 24. Mai geändert, als Premierminister Rishi Sunak den 4. Juli als Wahltag bekannt gab. Damit war die Sechs-Wochen-Frist angelaufen, nun spitzen die Zeitgenossen die Ohren und ihre Seele, um in dem täglichen Getümmel ihre politische Neigung zu entdecken und festzuzurren. Das ist leicht gesagt, wo bei der allgemeinen Desillusion mit der Politik tiefe Wähler-Tristesse die Gegenwart regiert.

Doch am 3. Juni erhellte der Blitz von einer Nachricht die politische Szene: Nigel Farage, der Spitzenkandidat der Rechtspartei Reform UK gab bekannt, er werde in den Wahlkampf einsteigen mit dem erklärten Ziel, der Konservativen Partei die Vorherrschaft im rechten Lager Großbritanniens streitig zu machen. Sein Plan: nach dem allgemein erwarteten Wahldebakel der Tories die eigentliche Opposition zur Labour-Partei im Lande anzuführen.

Dabei hatte der 60-Jährige nur eine Woche zuvor noch auf eine Kandidatur verzichtet und getönt, er werde in diesem Jahr seine ganze Kraft für den Wahlsieg seines Freundes Donald Trump einsetzen. Alles sprach vom Rückzug eines ausgebrannten Politikers aus der britischen Politik.

Es hieß, Sunak habe den klassischen Rebellen der Tories mit der Ankündigung des Wahltermins überrumpelt: Wer kann schon in den verbleibenden Wochen eine glaubwürdige Wahlplattform zimmern, mitsamt der nötigen Infrastruktur?

Mit dem Charisma eines Volkstribuns

Einen Farage aber muss man nach anderen Maßstäben messen. Er hat längst das Charisma eines Volkstribuns, wie es auf seine Art auch Boris Johnson besaß, und Rückkehr in die politische Arena ist gleichsam seine Erkennungsmelodie. Zur Nemesis der Tories wurde er 1992, als der Abgeordnete Farage aus Protest gegen die Unterschrift Premierministers John Major unter den EU-Maastricht-Vertrag die Tories verließ, und sein Glück fortan mit steigendem Erfolg in EU-Polemik investierte.

Die Gründung der Partei Ukip (United Kingdom Independence Party) war die unmittelbare Folge – der Name Farage bildete den Fokus für alle die EU verlassen wollenden Briten. Bei den Europa-Wahlen 2009 erzielte Ukip als stärkste britische Partei ihren ersten großen Durchbruch, was Premierminister David Cameron in die Panik trieb, das heißt in das Versprechen, 2016 ein Referendum zur Mitgliedschaft in der EU abhalten zu wollen.

Durch Farage rückte der Brexit ins Zentrum der britischen politischen Debatte und wurde zum Spaltpilz der Konservativen Partei. Der Rest ist Geschichte, und man geht nicht fehl, wenn man Farage als den eigentlichen Vater des Brexit apostrophiert. Eine eigene Parteigründung dieses Namens folgte bald, von Farage nach dem Vollzug des EU-Austritts Großbritanniens Anfang 2021 zu Reform UK umgetauft.

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Seine stärksten Auftritte auf der politischen Bühne hatte dieser Unruhegeist, der sich vergeblich um einen Parlamentssitz in Westminster bemühte, in den 20 Jahren seiner Abgeordnetenzeit im Brüsseler EU-Parlament. Berüchtigt waren seine kritischen Ausfälle, etwa gegen den Euro oder Griechenlands Mitgliedschaft im europäischen Club; der Börsenmakler in ihm bestand in wirtschaftlichen Fragen auf seiner oft abweichenden Meinung.

Persönliche Sottisen umarmte er wie sein eigentliches Metier, etwa, wenn er dem EU-Ratspräsidenten Herman Rompuy „das Charisma eines feuchten Lappen“, mit dem „Erscheinungsbild eines untergeordneten Bankangestellten“ zudichtete.

Aber die rhetorische Begabung dieses Kettenrauchers ist unbestritten, seine Trinkfestigkeit ebenso, wie seine Bonhomie, die er gerne mit dröhnendem Gelächter herauslässt. Sein Populismus erinnert in vielen Dingen an die Narreteien eines Boris Johnson, doch arbeitet er daran wie an einer Mission, mit nie nachlassender Energie.

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Man fand ihn vor Kurzem in der ITV-Realityshow „I’m a Celebrity – get me Out of Here“ im australischen Dschungel beim Verzehr unbeschreiblich scheußlichen Getiers; man findet ihn jetzt unter den Wählern seines Wahlkreises Clacton-on-Sea in Essex, deren Aufstand gegen „die da oben“, das Establishment, er teilt.

Er erregt sich mit ihnen über die Teuerung im Lande, oder über die Migrantenzahl, der der Brexit nicht hat beikommen können, wohl, weil er seit Johnson nicht konsequent genug durchgeführt wurde, wie Farage behauptet.

Seine Popularität konnte er allein mit der Teilnahme an „I’m a Celebrity“ um fünf Punkte steigern, während dem Tory-Parteichef Sunak unlängst Instinktlosigkeit vorgeworfen wurde, als er einer Gedenkfeier zur 80. Wiederkehr des D-Day, der Landung der Alliierten in der Normandie, fernblieb, um ein Wahlkampf-Interview wahrzunehmen.

Farage-Partei hat die Tories überholt

Laut einer Umfrage vom 12. Juni des renommierten Meinungsforschungsinstituts „YouGov“ hat die Reform Party die Konservative Partei inzwischen überholt, mit 19 zu 18 Prozent der Stimmen; ein Erdbeben kündigt sich an.

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Der Abstand zur führenden Labour-Partei, zu der sich bei YouGov 37 Prozent bekannten, ist indessen uneinholbar. Farage bezieht daraus Honig: Labour steht längst als Sieger fest, die Tories als massiver Verlierer – die Wähler könnten ihrer Stimme ruhig, so argumentiert er, der Reform Party schenken, ohne dramatische Konsequenzen zu befürchten.

Mit solchen Parolen muss auf der Insel eine rebellisch entschlossene, populäre Partei operieren, die dank des britischen Wahlrechts selbst bei gutem Abschneiden kaum im Parlament sichtbar wäre, da das Wahlrecht in jedem Wahlkreis nur den jeweiligen Gewinner berücksichtigt („winner takes all“), während die Stimmen für alle übrigen wegfallen.

Farage rückt besonders in den „red wall“-Kreisen des verarmten englischen Nordens vor, traditionelle Labour-Gebiete, die bei der letzten Wahl 2019 mit starker Mehrheit zu Johnson und seine Tories überliefen. Das wird sich nicht wiederholen. Wenn dort aber auch Labour wie vom „hautgout“ des Establishments angekränkelt wirkt und sich von einem Populisten, der auf ihre Alltagssorgen einzugehen versteht, angesprochen fühlen – wo steht dann am Ende ein Nigel Farage in der politischen Geschichte der Insel?

Sein Einfluss ist unbestritten, er könnte kraft der Schwäche seiner alten Partei zu ihrem Deus ex Machina werden – oder zu ihrem Totengräber. Jedenfalls mischen die Götter in Großbritannien am 4. Juli die Karten neu. Nur die Monarchie garantiert derzeit noch Stabilität.

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