An einem Tag Anfang März 1945 sieht Konrad Adenauer eine Granate auf sich zufliegen. Er erkennt sie früh, denn sie kommt aus Richtung Westen, und das ist, wohin er meistens schaut. US-Soldaten haben sie von der anderen Seite des Rheins abgeschossen. Adenauer steht auf einer Terrasse seines Gartens, eines ehemaligen Weinbergs im Örtchen Rhöndorf bei Bonn, ganz oben, und beobachtet die anrückenden Amerikaner. Wenige Meter neben ihm schlägt das Geschoss ein. Er wirft sich bäuchlings aufs Gras und hält die Hände über den Kopf. Eine zweite Granate geht nieder, eine dritte. "Hoch brisant" waren sie, so schreibt er später, "ihre Splitter gingen über mich hinweg". Trotz Lebensgefahr ist Adenauer erleichtert wie seit Langem nicht. Endlich kommen sie. Kommt auch das Ende des Krieges?

Bis Mitte März 1945 haben die Amerikaner die Gegend um Bonn erobert. Als er hoffen kann, dass keine Granaten mehr folgen, sammelt Adenauer Splitter im Garten ein. Um die Erinnerung wachzuhalten. Ein Jeep mit zwei Colonels hält in der Auffahrt. Adenauer gilt als vertrauenswürdig. Die Colonels bitten ihn, in sein altes Amt als Kölner Oberbürgermeister zurückzukehren, aus dem er 1933 verjagt worden war. In Adenauers Augen ist die Bitte eine Selbstverständlichkeit, trotzdem lehnt er ab. Und antwortet – was wie ein Anflug von Hybris und Pathos wirkt –, er fühle sich eher "dazu ausersehen, das deutsche Volk von Grund auf zum Frieden zu erziehen".

Vier Jahre und zwei Monate später. Es ist Montag, der 23. Mai 1949, frühmorgens, ein warmer Frühlingstag beginnt. Über Rhöndorf liegt Stille. Zur vollen Stunde schlagen die Glocken von St. Mariä Heimsuchung. Adenauer tritt vor die Haustür. Sein Fahrer wartet mit laufendem Motor an der Ecke, es geht nach Bonn. Für einige Monate war Adenauer 1945 doch Oberbürgermeister von Köln geworden. Aber das ging nicht lange gut, es gab Differenzen mit dem britischen Stadtkommandeur. Heute fährt er nach Bonn, weil in der Pädagogischen Akademie, wo er als Vorsitzender die Arbeit des Parlamentarischen Rates geleitet hat, das Fundament für ein neues Deutschland gelegt wird; es ist der große Tag des Grundgesetzes.

Die Verkündung war der Höhepunkt von zwei besonderen Wochen im Mai 1949, die konzentriert jene Widersprüchlichkeit in sich trugen, die der Gründung der Bundesrepublik innewohnte: Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates erarbeiteten eine Verfassung, die nicht so heißen durfte, für einen Staat, der nicht so bleiben sollte, in einer Stadt, von der lange kaum jemand annahm, sie sei wirklich eine Hauptstadt. Ein Gesicht gab dem Provisorium vor allem Konrad Adenauer, ein Mann, den auch in der eigenen Partei viele "den Alten" nannten, was ehrbezeugend klang und zugleich herablassend.

Die zwei Wochen begannen mit der letzten Debatte des Parlamentarischen Rates über das Grundgesetz: Am Sonntag, dem 8. Mai 1949, sollte abgestimmt werden. Doch Stunde um Stunde zog die Sache sich in die Länge. Dem Zentrum war das Dokument zu wenig christlich, der CSU zu wenig föderal. Es drohten Gegenstimmen. Die zwei Kommunisten im Rat stellten den Antrag, mit dem ostdeutschen Volksrat Kontakt aufzunehmen, statt alleine das Grundgesetz zu beschließen. Die SPD sah eine Gefahr darin, dass die deutsche Teilung durch eine rein westdeutsche Verfassung vertieft wurde. Das konnte auch die CDU nicht wollen. Carlo Schmid, der dem Hauptausschuss des Rats vorsaß, brachte es nach langer Aussprache auf den Punkt: "Wir wollen eine Einheit, die auch dem Osten Deutschlands die Freiheit gestattet, nicht eine, die dem Westen die Freiheit raubt." Der KPD-Antrag wurde abgelehnt.

Danach beschloss der Rat die Bundesflagge, schwarz-rot-gold sollte sie sein, wie in der Frankfurter Nationalversammlung 1848, wie in Weimar 1919. Und schließlich ging es um die Frage, ob das Volk mit einem Referendum über das Grundgesetz entscheiden sollte. Carlo Schmid winkte ab: "Wir haben hier doch nur einen Schuppen, einen Notbau", sagte er. Auch das Referendum wurde abgelehnt. Wieder kamen neue Anträge. Es wurde immer später. Schließlich sprach Theodor Heuss von der FDP auch seine eigene Fraktion an, als er mahnte, das Erreichte nicht zu zerreden. Das Grundgesetz schaffe ein "kleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksal". Kurz vor Mitternacht unterbrach Adenauer die Plädoyers und bat um die Stimmen, damit der symbolhafte Termin, der vierte Jahrestag der Kapitulation, nicht einfach verstrich. 53 Abgeordnete stimmten für das Grundgesetz, 12 dagegen. Damit war es beschlossen. Um fünf vor zwölf ergriff Adenauer das Wort: Es sei "für uns Deutsche der erste frohe Tag seit dem Jahre 1933".

Zwei Tage später, am Dienstag, dem 10. Mai, trat der Parlamentarische Rat erneut zusammen. Nicht mehr, um über das Grundgesetz zu sprechen, sondern um die Hauptstadt der Bundesrepublik zu bestimmen. Wie das Grundgesetz selbst galt Bonn als Provisorium. Die Sozialdemokraten favorisierten Frankfurt am Main, auch Kassel und Stuttgart hatten Interesse angemeldet. Als Scherz war Carlo Schmids Anregung verstanden worden, das Parlament in einer Baracke an der Grenze zur sowjetischen Zone tagen zu lassen. Für Monate hatte ein Lobbykampf zwischen Bonn und Frankfurt getobt. Es war mit Diavorträgen geworben, Kostenpläne waren veröffentlicht worden, Gerüchte wurden kolportiert über Bestechungsversuche. Und durch die Fenster der Pädagogischen Akademie in Bonn, eines Bauhaus-Ensembles aus den frühen Dreißigerjahren, drang bei jeder Sitzung der Baulärm, denn nebenan wurde das Gebäude für den ersten Bundestag hochgezogen. Auch das war angeblich nur ein Provisorium. Adenauer hatte den Bau veranlasst. Die Gegend um Bonn hatten die drei westlichen Besatzungsmächte zu diesem Zeitpunkt schon zu einer gemeinsamen Enklave erklärt, aus der sie das Militär abzogen. Auch das auf Adenauers Bitte hin. Was sich in Deutschlands Geschichte verhängnisvoll ausgewirkt habe, das "Preußische" zum Beispiel, habe am Rhein nie recht Fuß fassen können, erklärte Adenauer ein ums andere Mal. Ein guter Ort für den Neuanfang, fand er.