Das Coronavirus mutiert – ständig. Emma Hodcroft und Richard Neher sind diesen Veränderungen auf der Spur. Mithilfe von Erbgutdaten aus aller Welt spüren sie neue Varianten von Sars-CoV-2 auf und dokumentieren ihre Verbreitung. Immer auf der Suche nach Hinweisen, ob uns das Virus gefährlicher werden könnte – oder Mutationen sogar einen Impfstoff unwirksam machen.

ZEIT ONLINE: Immer wieder geht es in den Medien darum, dass das neue Coronavirus Sars-CoV-2 mutiert. Das klingt oft gefährlich. Ist es das?

Richard Neher: Nein, in der Regel nicht. Mutationen per se sind nicht gefährlich für den Wirt. Dass Viren wie Sars-CoV-2 mutieren, ist vollkommen normal. Während sie ihr Erbgut kopieren, um sich zu vermehren, machen sie relativ viele Fehler. Die führen dann zu kleinen Unterschieden im genetischen Code, den Mutationen.

Emma Hodcroft: Es ist, wie wenn eine Person ein Dokument immer und immer wieder von Hand abschreiben muss. Dabei macht sie fortwährend kleine Fehler. Nur heißt das nicht, dass der Text sich dadurch stark verändert oder gar unleserlich wird. Genau das sind die meisten Mutationen für das Virus: kleine Tippfehler, die nicht gleich bedeuten, dass sich das Virus grundlegend verändert. Es sind winzige Änderungen, die im großen Maßstab einer Pandemie relevant werden können. Aber es taucht nicht plötzlich eine Horror-Mutation auf, die innerhalb von Tagen die ganze Welt erobert.

ZEIT ONLINE: Die meisten Mutationen haben also keinen Einfluss darauf, wie gut sich das Virus ausbreitet oder wie gefährlich es für Menschen ist?

Hodcroft: Ganz genau, die meisten Mutationen sind völlig unbedeutend. Viele Mutationen schaden dem Virus sogar, weil sie Bereiche des Erbguts betreffen, die für den Erreger überlebenswichtig sind. Das passiert die ganze Zeit, wir bekommen es nur nicht mit, da diese Mutationen sich nicht weiterverbreiten. Dass eine Mutation für das Virus einen Vorteil bedeutet, ist selten. Die meiste Zeit ist es eher so, dass ein Virus versucht, trotz der Mutationen funktionsfähig zu bleiben.

ZEIT ONLINE: Das klingt, als seien Mutationen einfach nur zufällige Fehler. Aber gibt es nicht auch evolutionäre Gründe, warum Viren mutieren?

Neher: Das Ganze folgt keinem Plan. Das eigene Erbgut ohne Fehler zu kopieren, kostet schlicht Zeit und Energie. Menschliche Zellen etwa wenden sie auf, um Krebsmutationen zu vermeiden. Auch Viren versuchen Mutationen in ihrem Erbgut zu vermeiden. Ganz ohne Mutationen geht es aber auch nicht. Nur so können Viren sich an neue Wirte und Gegebenheiten anpassen.

ZEIT ONLINE: Wann sollten wir uns dann Sorgen machen?

Neher: Genau beobachten muss man die Mutationen, die Eigenschaften des Virus verändern. Das heißt aber nicht gleich, dass sie es tödlicher machen. Es gibt keinen Druck für das Virus, tödlicher zu werden, weil Tote den Erreger ja nicht mehr übertragen. 

ZEIT ONLINE: Worum geht es dann?

Neher: Zum Beispiel um Mutationen, die das Virus ansteckender machen. Vor allem darauf liegt derzeit der Selektionsdruck. Das heißt, Varianten des Virus, denen es aufgrund einer Mutation schneller gelingt, viele Menschen zu infizieren, sind im Vorteil. Ein Beispiel ist die D614G-Mutation, die vermutlich im Januar in China entstanden ist und sich seitdem weltweit ausgebreitet hat. Sie betrifft das Stachelprotein von Sars-CoV-2 und es gibt einige Evidenz dafür, dass sie die Übertragung des Virus verbessert (zum Beispiel Science: Hou et al., 2020). Für uns Menschen ändert sich dadurch erst einmal aber nichts, weil diese Mutation die Ausbrüche in Europa schon in der ersten Welle dominiert hat und nun in der zweiten ebenfalls.

ZEIT ONLINE: Wie wahrscheinlich ist es, dass Mutationen dem Virus erlauben, die menschliche Immunabwehr zu umgehen?

Hodcroft: Es geht dabei vor allem um Mutationen des Stachelproteins und dort vor allem um den Bereich, mit dem das Virus an die Wirtszelle bindet. Diese Teile des Virus sind es, die das Immunsystem erkennt. Ändern sie sich durch eine Mutation zu stark, dann – so die Sorge – könnte das Immunsystem von Menschen, die eine Infektion schon hinter sich haben oder geimpft sind, es nicht mehr erkennen.

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ZEIT ONLINE: Ist das denn realistisch?

Hodcroft: Wenn man sich mit Sars-CoV-2 infiziert oder eine Impfung bekommt, dann lernt das Immunsystem, das ganze Stachelprotein an mehreren Stellen zu erkennen – nicht nur einen kleinen Teil davon. Ein Vergleich hilft vielleicht, das zu verstehen: Einen Freund erkennen Sie ja auch nicht nur an seinem rechten Auge, sondern an seinem ganzen Gesicht, seinem Körper, seiner Stimme. Das Immunsystem tut dasselbe, es erkennt mehr als nur einen Teil des Virus. Das macht es unwahrscheinlich, dass nur eine oder zwei Mutationen dazu führen, dass viele Menschen sich erneut infizieren können oder die Impfstoffe wertlos werden. Wir müssen die Mutationen aber im Auge behalten, vor allem wenn bald immer mehr Menschen geimpft sein werden.