Eine schnelle Boosterkampagne ist das beste Mittel, um den Anstieg der Neuinfektionen zu stoppen. Das schreibt eine Gruppe von Corona-Wissenschaftlern in einer aktuellen Stellungnahme, die ZEIT ONLINE exklusiv vorliegt. Selbst wenn das Tempo der Auffrischungsimpfungen zeitnah deutlich zulege, würde sich der Effekt allerdings erst in vier Wochen zeigen, argumentieren die Expertinnen und Experten. Daher lasse sich eine Überlastung des Gesundheitssystems nur mit weiteren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung verhindern.

Zu den Autoren des Papiers gehören die Physikerin Viola Priesemann, der Soziologe Armin Nassehi, die Virologinnen Sandra Ciesek und Ulrike Protzer, der Infektiologe Leif Erik Sander, der Epidemiologe André Karch und der Physiker Kai Nagel. Auf 21 Seiten tragen die Forschenden den aktuellen Wissensstand zur Wirksamkeit von Impfungen und Tests zusammen, zeigen verschiedene Szenarien für die kommenden Monate und diskutieren mögliche Gegenmaßnahmen. Dazu gehört auch ein kurzer, effektiver Lockdown. Das Dokument ist hier abrufbar.

"Impfungen schützen nicht nur die geimpfte Person vor Ansteckung und schwerer Erkrankung", schreibt die Expertengruppe, "sie reduzieren auch die Übertragung des Virus von Geimpften auf deren Kontaktpersonen." Zwar sind auch doppelt Geimpfte nicht vollständig vor einer Infektion geschützt. Sie geben das Virus aber viel seltener weiter und haben in der Regel deutlich schwächere Symptome. Diese Tatsache ist zwar wissenschaftlich unstrittig, wird in der öffentlichen Debatte dennoch immer wieder angezweifelt.

Forschende erwarten weitere Verschärfung der Lage

Allerdings lässt der Impfschutz im Lauf der Monate nach. Darum seien Auffrischungsimpfungen entscheidend, schreibt die Expertengruppe: "Boostern ist ein sehr mächtiges Werkzeug zur Eindämmung der Pandemie." Die Boosterimpfung stelle nicht nur den Schutz, der kurz nach der zweiten Impfung vorhanden war, wieder her, sondern steigere ihn nochmals deutlich. Daher müsse man die Verabreichungen der Booster deutlich beschleunigen. Vor allem Menschen mit Immunschwäche, Risikopatienten sowie Beschäftigte des Gesundheits- und Pflegesektors seien dabei zu priorisieren.

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Die Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass sich die pandemische Lage in den kommenden Wochen weiter verschärft. Wenn weder das Impfen beschleunigt noch andere Maßnahmen ergriffen würden, erreiche man eine Inzidenz von "vielen Hundert Infizierten je 100.000 Einwohner", heißt es in dem Papier. In diesem Fall seien in manchen Regionen "Verzögerungen und Engpässen bei der Krankenversorgung und Versorgung der Notfälle" wahrscheinlich. Folglich müsse die Politik reagieren.

Nach Einschätzung der Forschenden reichen die derzeit geplanten 2G- und 3G-Regelungen alleine allerdings nicht aus, "wenn sie nicht durch weitere Maßnahmen unterstützt werden". Schließlich verhinderten 2G und 3G kaum Ansteckungen im Privaten. Die Wissenschaftler bringen daher Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte ins Spiel.

Die Rolle von Schnelltests sehen die Forscherinnen differenziert: Sie würden nur einen Teil der Infektionen erkennen. Außerdem sei ein Einsatz nur sinnvoll, wenn Verdachtsfälle isoliert und deren Kontaktpersonen ermittelt würden, das wäre aufwendig und teuer. Sinnvoll sei "ein gezielter Einsatz im Verdachtsfall, vor Treffen mit vulnerablen Personen oder in großen Gruppen mit hoher Übertragung", wozu etwa ungeimpfte Schülerinnen und Schüler zählen würden.

Notfalls brauche es kurzen Lockdown und Kontaktbeschränkungen

Für den Fall, dass die genannten Maßnahmen nicht reichen, um die Welle zu brechen, regt die Gruppe einen kurzen Lockdown an, den sie "Notschutzschalter" nennen. Dieser könne beispielsweise zwei Wochen dauern und müsse langfristig vorbereitet werden, um die Folgen abzufedern. Man könne dann kurzfristig entscheiden, ob die Option wirklich notwendig sei. Ein künftiger Lockdown könne aus ​​Homeoffice und einer Testpflicht am Arbeitsplatz, kleineren Kindergartengruppen und Schulklassen, der Schließung von Restaurants und Geschäften sowie Kontaktbeschränkungen bestehen. "Ein halbherziger Notschutzschalter verfehlt seine Wirkung."

Auch der Virologe Christian Drosten hatte zuletzt von der Notwendigkeit eines erneuten Shutdowns gesprochen. "Ich halte es für sicher, dass man kontakteinschränkende Maßnahmen braucht", sagt Drosten in einem großen Interview mit der ZEIT. Er hoffe, dass man nicht erneut die Schulen schließen werde.