Nach dem Abi zog ich in eine entfernte Stadt, um Geographie zu studieren. Meine Freunde hielten das für einen Akt der Selbstverwirklichung. In Wahrheit aber zog ich fort, um der Alkoholabhängigkeit meines Vaters zu entkommen.

Meine Eltern trennten sich, als ich noch sehr jung war. Ich wuchs bei meiner Mutter auf, meinen Vater besuchte ich an den Wochenenden. Als Kind empfand ich ihn als großartigen Mann. Wir sammelten Fossilien an der Ostsee. An Regentagen spielten wir Mensch ärgere dich nicht. Häufig ließ er mich einfach lesen; erst Comics oder Jugendkrimis, später seine Bücher. Er besaß viele, und ich las jedes, das ich verstehen konnte. Viele verstand ich nicht, doch da ich es nicht bemerkte, spielte das keine Rolle.

Doch je älter ich wurde, desto unwohler fühlte ich mich in seiner Gegenwart. Vielleicht wurde mein Blick als Jugendliche schärfer, wahrscheinlicher aber ist, dass sich in ihm eine große Veränderung vollzog. Plötzlich sah ich, wie früh am Tag er zu trinken begann. Sein Verhalten mir gegenüber wurde rechthaberisch, manchmal regelrecht provokant. "Mit dem Alkohol könnte ich jederzeit aufhören, aber ich will es nicht." Sätze wie diesen empfand ich als Verhöhnung meiner Sehnsucht nach einem Vater, der Rücksicht auf seine Tochter nimmt.

Als ich etwa sechzehn war, erkrankte er zusätzlich an einer schweren Depression. Doch kein Arzt stellte diese Diagnose, denn mein Vater suchte niemals einen auf. Die Gründe für seine Erkrankung und seinen Umgang damit kenne ich, aber ich verstehe sie nur zum Teil. Sicher ist, dass sein Zustand für mich zu einer schweren Belastung wurde. Seine Einsamkeit, seine Traurigkeit und seine zunehmende körperliche Verwahrlosung offenbarte er nur einem einzigen Menschen: mir.

So drückte ich jedes Wochenende an seinem Wohnblock die Klingel mit unserem Nachnamen auf dem Schild, ohne zu wissen, ob er öffnen würde. Freimütig teilte er seine Suizidgedanken mit mir, erzählte mit grauem Gesicht von einem Seil im Keller, das er bisher noch nicht um seinen Hals gelegt habe. All das behielt ich für mich. Meine Mutter bemühte sich sehr um mich, doch sie drang erst spät zu mir durch. Dass ich Hilfe für mich gebraucht hätte, das begriff ich damals nicht.

Als ich zwanzig war, überwand mein Vater die Depression. Seine Alkoholabhängigkeit besteht noch immer. Ich machte Abitur, dann zog ich fort. Für die Wahl meines Studienfaches fand ich Gründe, wie ich für jedes andere Fach Gründe gefunden hätte. Ich wollte bloß weg, und tatsächlich verschaffte mir der neue Ort den Raum, den ich benötigte, um den Blick auf mich selbst zu richten.

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Heute, sechs Jahre später, mache ich meinen Masterabschluss nicht in Geographie, sondern in Sonderpädagogik. Im Studium habe ich einiges über Kinder psychisch kranker oder suchterkrankter Eltern gelernt. Sie leiden oft im Verborgenen. Jetzt, da ich klar erkenne und ohne Wut sagen kann, dass ich einmal eines von diesen Kindern war, weiß ich, dass ich glimpflich davongekommen bin.

Unsere Autorin schreibt unter einem Pseudonym. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.