Das deutsche Publikum war still, aber es war noch da. Dann flankte David Raum in guter, alter Linksaußenmanier und Niclas Füllkrug sprang. Der Ball flog von seiner Stirn leicht nach oben, über die Höhe der Latte, senkte sich aber rechtzeitig nach unten ins Netz. Ausgleich in der 92. Minute. Jetzt wurde aus einem leisen Publikum ein lautes.

Deutschland kam, wie seine Bahn, mit Verspätung, aber Deutschland kam an. Ein Tor in der Nachspielzeit brachte den Gruppensieg, wie bei der WM 2006, als Oliver Neuville auf Flanke von David Odonkor gegen Polen traf. Dieser Vergleich wurde gezogen an diesem Abend, ungeachtet der Tatsache, dass es damals ein Sieg war, diesmal ein Unentschieden.

Im dritten Vorrundenspiel dieser EM rettete die lange ratlose deutsche Elf in letzter Minute ein 1:1 gegen die Schweiz und damit Platz 1 in der Gruppe A. Trainer und Team gaben sich zufrieden, sogar glücklich. Doch die Leistung offenbarte Grenzen und Mängel, von denen mancher gehofft hatte, sie würden nicht mehr so ins Gewicht fallen, sie wären kleiner geworden. Das Schweiz-Spiel erinnerte Deutschland-Fans an etwas, was nach den jüngsten Siegen langsam in Vergessenheit geraten war: So ein Turnier kann schnell vorbei sein.

Symptomatisch war das Tor zum 0:1. Jamal Musiala verlor den Ball im Mittelfeld. Robert Andrich reagierte behäbig. Joshua Kimmich rückte erst zu weit ein, dann nicht mehr schnell genug zurück an seinen Platz. Antonio Rüdiger schaltete etwas spät. Dann war das Gegentor nicht mehr zu verhindern, Remo Feuler chippte zu Dan Ndoye – ein Volley ins Tor.

Das Abwehrzentrum lässt sich auseinanderziehen

Grundsätzliche Probleme in der Defensive wurden sichtbar. Kimmich war kaum in der Lage, Gegner aufzuhalten, und seine Antennen für Gefahr funkten oft falsche Signale. Rüdiger ließ, obwohl in der besseren Position, direkt nach dem 0:1 Ndoye hinter seinem Rücken kreuzend vorbeiziehen, was fast das 0:2 zur Folge gehabt hätte. Jonathan Tah sah bei einem übermotivierten Foul in der gegnerischen Hälfte seine zweite Gelbe Karte. Im Achtelfinale ist er gesperrt.

Für ihn wird Julian Nagelsmann wohl Nico Schlotterbeck einsetzen, der in einer Szene nach seiner Einwechslung seinen Skeptikern ein weiteres Indiz an die Hand gab, als er im Mittelfeld zu Boden ging. In dieser Szene fiel das vermeintliche Tor zum 0:2, das jedoch eine kalibrierte Linie als Abseits ermittelte. Das Abwehrzentrum neigt generell dazu, sich auseinanderziehen zu lassen, woraus die Schweiz nicht mal viel gemacht hat. Der nächste Gegner könnte sich das aber angeschaut haben.

So wie die Schweiz ebenfalls vieles von dem wusste, was auf sie zukam. Musiala gab den Ball oft her, für seine Verhältnisse extrem oft. Florian Wirtz' Dribblings hatten wenig Ziel. Und auf den Flügeln zeigte sich wenig, da Kimmich und Maximilian Mittelstädt über wenige Mittel in der Offensive verfügen.

Am besten gescoutet war offenbar Toni Kroos. Granit Xhaka, der beste Spieler auf dem Feld, nötigte ihm das Duell auf, das der Schweizer gewann. Unter Druck verlor Kroos‘ Spielaufbau an Verlässlichkeit. Er fühlte sich nur in harmlosen Zonen wohl, seine Pässe waren durchsichtig, und im Angriffsdrittel ist von ihm ohnehin nicht mehr viel zu erwarten. Noch dazu streute er auf der Frankfurter Galopprennbahn ein paar technische Fehler ein.

Viel Ballbesitz, wenig Flügelspiel. Viele Angriffsversuche, wenig Torchancen. Man bekam keine Ahnung davon, wie Deutschland ein Tor schießen wollte. Gemessen am hohen Ballbesitz (66:34) kam wenig Gefahr herum. Die Kopfballversuche von Kai Havertz waren eines Arsenal-Stürmers unwürdig.

Hoffnungen auf einen Finaleinzug sind gedämpft

Die lange Mängelliste wird der Mannschaft freilich nicht ganz gerecht. Sie kann ja viel. Sie hielt den Ball auch gegen die Schweiz in ihren Reihen und erlangte dadurch Spielkontrolle. Das Passspiel war gut. Vorne verlangte die Fraktion Technik der Schweizer Abwehr um den starken Manuel Akanji viel ab.

Und die Einwechslungen saßen. Füllkrug mag in technischen Dingen wieder ein paar Standards unterschritten haben, aber er war wieder da. Vielleicht erscheint er bald in der Startelf.

Hinzu kommt, dass einige Entscheidungen des Schiedsrichters ungünstig ausfielen. Für die Aktionen gegen Havertz und Maximilian Beier wurde schon Elfmeter gepfiffen. Ein Tor von Andrich wurde aberkannt. Der Schweiz gelang mit dem ersten Schuss das erste Tor. Überhaupt, sieben Punkte aus drei Spielen, also so viel wie zuletzt bei der EM 2016, das klingt gut. Ein schwächeres, komplizierteres Spiel gehört nun mal zu einem erfolgreichen Turnier.

Dennoch, nach den zwei deutschen Siegen gegen Schottland und Ungarn hat das Spiel gegen die Schweiz die Hoffnungen auf einen Finaleinzug nicht unwesentlich gedämpft. Auf einen großen Heimvorteil sollte Julian Nagelsmanns Elf auch nicht setzen, weil die vielen Gästefans den besseren Support machen. In Frankfurt waren die Schweizer, die ihre eigenen Kuhglocken übertönten, lauter als die "Schlandler".

Doch die Gegner werden nicht leichter. Und die deutschen Schwächen sind nun bekannt. Vielleicht gelingt es dem Bundestrainer in der Trainingswoche, noch die eine oder andere zu beheben. Optimisten hatten allerdings damit gerechnet, dass da schon mehr passiert wäre.