Dafür, dass sie das Verlieren verlernt hatten, wie einer von ihnen vorher behauptet hatte, stellten sie sich gar nicht so doof an, als es so weit war. Die Leverkusener stemmten nach dem Abpfiff ihre Hände in die Hüfte. Sie schwiegen und guckten jeder für sich in die schwarz-rote Fankurve. Die sang vom "Deut! Schen! Fuß! Ball! Meister!", und nach einigen Augenblicken, in denen dieses komische Gefühl, ein Spiel verloren zu haben, in den Spielern aufstieg, trotteten sie langsam los und klatschen ihrem Anhang zu. Danach die Medaille abholen, den Kopf natürlich gesenkt, anschließend selbst Spalier für die Sieger stehen. Doch doch, so macht man das, auch das können sie.  

Dabei dachte man bis zu diesem Finale, sie würden es tatsächlich schaffen. 51 Pflichtspiele in Folge hatte Bayer Leverkusen nicht verloren, 28 verschiedene Clubs von Ottensen bis Baku hatten es versucht. Eine komplette Bundesligasaison hat Bayer niederlagenfrei abgeschlossen, ein Rekord, der lange Bestand haben wird. Zwei entscheidende Finalsiege im DFB-Pokal und in der Europa League fehlten noch zu einer weltweit einzigartigen Bestmarke. Doch nun war es also so weit. Atalanta Bergamo hat der Bundesliga im Finale gezeigt, wie man das macht, Leverkusen besiegen. Ende Mai 2023 war das Bochum zuletzt gelungen. Aber kurz bevor man fürchten musste, dass die Vergleiche für die sensationelle Leverkusener Saison ausgehen würden, verlor Bayer das Finale gegen Bergamo mit 0:3. 

Jürgen Klopp dürfte beim Schauen dieses Spiels einige Male "Kenn ich!" seinem Fernseher zugerufen haben. Schließlich hatte Atalanta im Viertelfinale Klopps Gegenpressing-Fußball mit noch stressigerem Pressing ausgehebelt und Klopp kurz vor seinem Abschied mit 0:3 zu Hause gedemütigt. In diese fiese Mühle geriet nun auch Leverkusen.  

Was ein wenig erstaunlich war, schließlich hatten Trainer Xabi Alonso, Manager Simon Rolfes und Spieler wie Patrick Schick oder Granit Xhaka genau davor gewarnt. Sie hatten ein physisches Spiel vorausgesagt. Einen Gegner, der wehtun und nicht aufgeben würde. Manndeckung von Atalanta über das gesamte Feld, selbst wenn damit ihre eigene Abwehrreihe an Struktur und gemeinsamer Linie verliert. Und genau das haben sie bekommen, ohne dass sie dem etwas entgegenzusetzen gehabt hätten.

Atalanta nahm Leverkusen seine größte Stärke

Bergamo war gerade in der ersten Halbzeit stets eine Schienbeinlänge und einen Stollen voraus. Alonso hatte in der Hoffnung auf Konterchancen seine beiden Mittelstürmer Schick und Victor Boniface auf der Bank gelassen und stattdessen Amine Adli aufgeboten. Einer seiner seltenen Fehler, denn der schaffte es nie, einen Ball festzumachen und seiner Mannschaft Zeit zum kontrollierten Nachrücken zu verschaffen. Atalanta nahm Leverkusen seine größte Stärke. Auf Robert Andrich, den Toni Kroos bei der EM am liebsten neben sich hätte, verzichtete Alonso lange. Einfluss nahm Andrich nach seiner Einwechselung keinen mehr, doch auch Exequiel Palacios, der statt Andrich spielte, wirkte gegen Éderson wie eine irische Fiddle vor dem Besaiten.

Und so ging es weiter mit Szenen, die Leverkusen-Fans wie Ergebnisse der Landtagswahlen aus Niedersachsen vorgekommen sein müssen, die waren schließlich auch im Oktober 2022. Florian Wirtz spielte einen Fehlpass. Wirkungslos und überreizt von zu vielen Wortgefechten mit dem Schiedsrichter wurde er ausgewechselt. Der feine Fuß von Alejandro Grimaldo hatte offenbar Anpassungsschwierigkeiten an die Brise, die von der Irischen See rüberwehte. Er scheiterte vor dem Torhüter mit einem kläglichen Lupfer und ein anderes Mal gar mit einem Freistoß am erstbesten Mann. Victor Boniface, selbst kein Kraftraumgegner, fand in Bergamos Stürmer Gianluca Scamacca einen Ringer, an dem sein Körper zerschellte.  

Und Granit Xhaka wurde die Peinlichkeit erspart, dass einer seiner Schüsse vor der Bergamo-Kurve zur Eckfahne ging. Stattdessen blieb er gleich am ersten Schienbein vor ihm hängen. Er hatte sich wie einige andere auch das schlechteste Spiel der Saison für das Saisonende aufgespart. Das Leverkusener Motto der Saison – die werden doch nicht etwa doch noch – war dieses Mal in keiner Minute zu verspüren.