Am Mittwochnachmittag sitzt Robert Habeck mit überkreuzten Beinen auf einem hohen weißen Stuhl. Der Wirtschaftsminister ist auf Sommerreise, in Essen diskutiert er mit Lesern der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Natürlich wird ihm hier die Frage gestellt, die ihn seit Jahr und Tag überall verfolgt: Wer wird denn nun Kanzlerkandidat? Er oder seine Dauerkonkurrentin, Außenministerin Annalena Baerbock? "Diese Kanzlerkandidatenfrage", sagt Habeck und malt dabei mit den Händen zwei Anführungszeichen in die Luft, sei doch weniger eine Frage an ihn oder Baerbock nach dem Motto 'Wer will denn mal, wer hat noch nicht', sondern vielmehr eine Frage an seine Partei: "Wer wollt ihr sein, welche Rolle wollt ihr spielen?" Wenn das beantwortet sei, ergebe sich der Rest quasi von selbst.

Es kommt dann allerdings anders. Die Partei wird nicht gefragt. Stattdessen schafft Baerbock Tausende Kilometer von Essen entfernt, am Rande des Nato-Gipfels in Washington, D. C., Fakten. Sie stehe nicht als Kanzlerkandidatin bereit, sagt sie der CNN Journalistin Christiane Amanpour. Angesichts der vielen Krisen in der Welt wolle sie sich viel mehr ganz auf ihre Aufgabe als Außenministerin konzentrieren.

Wums, diese Nachricht schlägt ein. Denn sie beendet den quälenden Machtkampf zwischen den beiden wichtigsten grünen Politikern, der die Grünen die letzten Jahre belastet hat. Sämtliche Auftritte der beiden Minister wurden schließlich immer auch unter der Frage beleuchtet: Kann er Kanzler? Kann sie es? Und wer hat von beiden in diesem Wettkampf gerade die Nase um wie viele Zentimeter vorn?  

Große Erleichterung

Dass es damit nun endlich vorbei ist, das löst in der Partei vor allem eine große Erleichterung aus. Zahlreiche grüne Spitzenpolitiker feiern Baerbock nur Minuten nach der Bekanntgabe auf X für ihre Entscheidung. "Verantwortung für das Ganze, eine Teamspielerin durch und durch. Das wissen wir alle und das schätzt unsere Partei so an ihr", schreibt die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann. Auch ihre Co-Vorsitzende Katharina Dröge dankt für "das Teamplay". "Es ist eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung, in dieser Zeit der Außenpolitik Stabilität und Priorität zu geben", schreibt sie. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Hinter dem Stichwort Teamplay verbirgt sich vor allem die Dankbarkeit, dass Baerbock ihrer Partei mit ihrer Entscheidung eine offene Abstimmung erspart. Zwar schien es in den vergangenen Monaten ohnehin auf Habeck zuzulaufen. Dennoch gab es selbst bei denen, die beste Kontakte zur Partei- und Fraktionsspitze haben, bis zuletzt Zweifel, ob es wirklich gelingen werde, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Immerhin schien Baerbock bis zuletzt nicht ganz aufgegeben zu haben. "Als Außenministerin habe ich gelernt, dass alles möglich ist", antwortete sie noch Mitte Juni auf die Frage der Süddeutschen Zeitung nach einer möglichen Kandidatur.

Hätte Baerbock tatsächlich an ihren Ambitionen festgehalten, hätte eine Urwahl entscheiden müssen – so jedenfalls hatte es die Parteispitze beschlossen. Vor der parteiinternen Auseinandersetzung allerdings grauste es den einst so basisdemokratischen Grünen sehr. "Da wären die einen gekommen und hätten gesagt, sie hatte schon ihre Chance. Die anderen hätten wieder schlecht über Robert geredet", sagt ein hochrangiges Fraktionsmitglied. Es wäre ein Hauen und Stechen, eine Schlammschlacht geworden, wie sie die Grünen schon lange nicht mehr gesehen haben. Das alles bleibt der Partei nun erspart.

Selbst hochrangige Grüne werden überrascht

Der genaue Zeitpunkt der Ankündigung ebenso wie der ungewöhnliche Ort kamen selbst für Spitzenmitglieder der Partei überraschend, auch wenn Habeck selbst und die Parteivorsitzenden und wohl noch einige andere Vertraute eingeweiht waren. Dass Baerbock einen amerikanischen Fernsehsender wählte, um ihre Entscheidung mitzuteilen, und erst danach in einem kurzen Schreiben Partei und Fraktion informierte, sorgt bei einigen zwar durchaus für irritiertes Kopfschütteln. Letztlich ist es den meisten aber auch egal, Hauptsache es herrscht jetzt Klarheit.

Aber es stellt sich schon die Frage, ob der Zeitpunkt der Bekanntgabe wirklich günstig gewählt war. Immerhin stehen den Grünen im Herbst gleich drei Landtagswahlen bevor, bei denen sie aller Voraussicht nach dramatisch schlecht abschneiden werden. In Sachsen und Brandenburg steht die Partei, die nun erneut einen Kanzlerkandidaten aufstellen will, bei etwas mehr als fünf Prozent, in Thüringen droht sie aus dem Landtag zu fallen. Auch wenn die Grünen Habeck erst nach den Wahlen offiziell nominieren wollen, wie aus der Partei zu hören ist: Dass er die Spitzenkandidatur übernehmen wird und künftig die Nummer eins in der Partei ist, daran gibt es nun keinen Zweifel mehr. Das heißt aber auch: Jede Wahlniederlage wird insbesondere mit ihm in Verbindung gebracht werden.

Habeck hat nun also – anders als Baerbock beim letzten Mal – eine sehr lange Kandidatenphase vor sich. Das ist einerseits eine Chance. Es lässt ihm mehr Zeit, seine Popularität, die nach dem Heizungsgesetz vom vergangenen Jahr auf einen Tiefstand gesunken war, durch positive Auftritte wieder zu verbessern. Auf der anderen Seite bedeutet es aber natürlich auch, dass er nun ein Jahr lang in besonderer Weise im Fokus seiner Gegner stehen wird.