Der Favorit kommt zu spät: Um 18 Uhr sollte es losgehen. Um Viertel nach ist er noch immer nicht im Studio mit dem großen Bildschirm für Zuschauerfragen und der Büste des ersten Kanzlers der Bundesrepublik in der Ecke. Auch wenn die Moderatorin versichert: Friedrich Merz sei schon im Konrad-Adenauer-Haus angekommen und unterwegs.

Favorit deshalb, weil die CDU gerade ihren dritten Vorsitzenden in drei Jahren wählt. Und weil Merz ein drittes Mal antritt. Und weil Merz noch immer sehr populär ist unter den einfachen Mitgliedern. Und weil die diesmal abstimmen – nicht wie sonst die Delegierten auf einem Parteitag. Und ausgerechnet für Merz spricht nun, dass seine Kandidatur gut austariert wirkt.  

Mit Mario Czaja hat er einen Ostdeutschen als potenziellen Generalsekretär, mit Christina Stumpp als dessen Stellvertreterin eine Frau aus Baden-Württemberg. Für Czaja, und damit für Merz, spricht, dass er mit der Berliner Sozialverwaltung schon mal eine Behörde geführt hat. Außerdem stammt er aus dem Sozialflügel seiner Partei. Das ist erstens wichtig, weil sich in der CDU inzwischen die Lesart durchgesetzt zu haben scheint, dass mit diesen Themen die Wahl für die CDU verloren ging. Und zweitens: Weil Merz, konservativ und Protagonist der Neoliberalisierung der CDU, damit ein Gegengewicht an der Parteispitze bekäme. Merz nimmt sich also mit dieser Personalie selbst ein bisschen das Gruselpotenzial, das er bei vielen in der Partei, aber besonders beim ganzen Rest des Landes noch immer hat.

Merz hat den Weg dann doch gefunden, der Wahlkampf beginnt. Der Auftritt im Parteistudio, diese Talkshow mit nur einem Gast, ist die erste von insgesamt vier Veranstaltungen, mit denen die CDU die drei Kandidaten bei der eigenen Basis bekannt machen will: Am Mittwoch kommt Norbert Röttgen, am Donnerstag Helge Braun. Und kommende Woche treffen alle drei Bewerber aufeinander.

Die Kanten bleiben

Und so viel wird klar: Gegenpol Czaja hin oder her, ganz kantenlos bekommt man den ehemaligen Chef der Unionsfraktion nicht. Merz hat ein Publikum und das verbindet mit ihm recht spezifische Erwartungen. So wird er gleich zu Beginn gefragt, was er von der Obergrenze und der Situation in Belarus halte. Das passiert immer wieder. Merz wird so gefragt, dass die Frage eine ganz eindeutige Antwortpräferenz durchscheinen lässt. Ein CDU-Mitglied mit Migrationshintergrund will, dass Merz was gegen Clankriminalität macht. Ein anderer fragt nach der "Festung Europa".

Merz antwortet zu Belarus erst recht unverfänglich: "In dem Maß, in dem man die Binnengrenzen absenkt, muss man die Außengrenzen schützen." Und stellt dann aber fest: "Die Botschaft muss klar sein, es gibt keinen unbegrenzten Zuzug in die EU." Und: "Es kann nicht sein, dass alle Flüchtlinge der Welt alle nach Deutschland wollen." Er sagt, Deutschland müsse ein offenes Land bleiben, das auch Asylbewerbern helfe, es gebe aber eine "Grenze der Aufnahmefähigkeit". Die Obergrenze, wie sie die große Koalition beschlossen hatte, macht er sich nicht zu eigen. Über die Clans sagt er, man wisse, dass es überproportional hohe Kriminalität in Teilen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gebe. "Es geht hier um den Schutz der potenziellen Opfer und weniger um Rücksicht auf die Täter."

Buh! Halb Twitter-Deutschland fällt vermutlich gerade die Kamillenteetasse aus der Hand. So könnte die CDU bald klingen. Oder ganz, ganz anders. Am Montagmittag, wenige Stunden vor Merz' Auftritt bei CDU.TV, stellt Helge Braun erstmals die Details seiner Kandidatur in der Bundespressekonferenz vor. Zu Braun: Der bleibt auch bei seinem Spurwechsel von der Regierungs- auf die Parteikarriere genauso aufregungsarm, wie man sich den Maschinisten der späten Merkel-Jahre eben vorstellt. Er phrast so vor sich hin, er sei angetreten, "dass die CDU schnell wieder stark wird". Er will aus der "Mitgliederpartei eine Mitmachpartei" machen. Und für die hart Arbeitenden da sein. Ein bisschen lustig ist er schon. Weil Merz bei der Pressekonferenz zu seiner Kandidatur das Neuköllner Estrel Hotel fälschlicherweise dem Osten zuschlug, beginnt Braun im Regierungsviertel mit: "Willkommen in Ostberlin." Na gut.

Bemerkenswerter ist ohnehin, wen Braun mitgebracht hat. Serap Güler, neu im Bundestag und zuletzt Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen, soll unter ihm Generalsekretärin werden. Die Digitalpolitikerin Nadine Schön soll sich im Adenauerhaus um Struktur und Programm kümmern – wobei sie selbst noch nicht so genau zu wissen scheint, ob das jetzt eine neu geschaffene Stelle werden soll oder damit nur der Vorsitz der Struktursatzungskommission gemeint war.

Güler und Schön gehören ohne Zweifel zum Interessantesten, was die CDU in der Generation unter 45 zu bieten hat. Güler sagt: Sie wisse, was harte Arbeit ist. Ihr Vater war Bergmann, ihre Mutter ging putzen. Sie selbst machte eine Ausbildung im Hotel und kochte Frühstück für die Gäste, als ihre Altersgenossen von der Party kamen. Sie will "eine CDU mit Empathie". Und fordert einen neuen "Stil der Verlässlichkeit und Verbindlichkeit" und will "eine Sprache, die nicht nur Akademiker, sondern jedermann versteht". Sie sagt: "Wir hier brennen, wir haben da richtig Bock drauf." In der Regierungskompromissnuschlerpartei CDU ist so viel herzliche Ambition selten geworden.

Das Ganze hat nur einen Haken: Linksliberaler als die drei geht's in der CDU nicht. Sie geben sich immerhin die Mühe, das abzustreiten. An der Ausgangslage ändert das nichts. Ausgleich? Fehlanzeige! Proporz? Ja, wenn es um Geschlecht und Migrationshintergrund geht. Null, wenn man Parteiströmungen berücksichtigt. Es braucht schon viel Fantasie, sich dieses Trio beim Wahlkampf in Ostdeutschland vorzustellen. Also dem Teil außerhalb von Berlin-Mitte.

"Ich kann dann auch nicht Nein sagen"

Wenigstens ein Thema adressiert Braun mit seinem Team jedenfalls: Die CDU hat ein Frauenproblem. Das wird auch am Abend Merz klar, und zwar nicht in Form des Kandidaten. Kaum eine Frau erscheint auf dem Einspielermonitor. Die Fragen stellen die Männer. Sei es, weil keine Frauen wollen oder weil die Regie anders gewählt hat. Irgendwann hat ein weibliches Neumitglied genug und fragt per Chat ins Studio, warum sich keine Frauen melden.

Den Rest seines Fragenkatalogs arbeitet Merz dann gewissenhaft und ohne Höhepunkte ab. Er verspricht, wie eigentlich alle Wahlkämpfer, mehr von allem: mehr Mitsprache der Basis, mehr für die Bundeswehr, mehr Zukunftsfähigkeit der Sozialsysteme, mehr für Bildung, mehr für Start-ups.  

Allein zum Schluss kommt er einmal kurz aus dem Konzept. Warum er sich diese Kandidatur in dem Alter noch mal antue – die Frage stellt eine Frau. "Ja, es hat schon etwas Irrationales", sagt Merz. "Ich gebe zu, es ist außergewöhnlich." So etwas habe es in der CDU noch nie gegeben. Aber die Partei sei ein ganz wesentlicher Teil seines Lebens. Viele Mitglieder hätten ihn gefragt. "Ich kann dann auch nicht Nein sagen."