Selbst nach 84 Jahren kann das Leben noch Premieren bereithalten. Hans Walter Mnilk sitzt in seiner dicken Winterjacke auf einem Stuhl, er hat die weiße FFP-Maske unters Kinn geschoben und seinen Mund weit geöffnet. Vor ihm steht eine Frau vom örtlichen Gesundheitsamt, sie ist komplett in einen weißen Schutzanzug gehüllt, auf dem Kopf trägt sie einen Helm, der mit seinem großen Visier an eine Astronautenausrüstung erinnert. Jetzt lächelt sie freundlich und schiebt dem Rentner einen langen Wattestab in den Rachen und – "das wird jetzt kurz ein bisschen unangenehm" – tief in die Nase. Dann ist es auch schon vorbei. Hans Walter Mnilk hat eine kleine Träne im Auge und seinen allerersten Corona-Schnelltest absolviert. Er bekommt ein Plastikkärtchen mit der Nummer 21 in die Hand gedrückt und darf in den Nebenraum, zum Warten. Nach zehn Minuten erhält er einen Zettel mit dem Ergebnis überreicht.

Der Befund ist negativ, Mnilk ist nicht mit dem Sars-Cov-2-Virus infiziert. Nun, sagt er, könne er mit seiner Frau, die sich auch testen ließ, den kranken Schwager besuchen. "Genau für solche Fälle ist das Testzentrum da", sagt Matthias Jendricke und klingt hörbar zufrieden mit sich. "Es geht darum, wieder ein Stück Normalität zurückzubekommen." Jendricke ist ein groß gewachsener Mann Ende 40. Hose, Hemd und Sakko sind in Blautönen fein aufeinander abgestimmt, statt eines Schlipses hat er sich einen dünnen, grauen Schal um den Hals gewickelt. Er ist der Landrat im Kreis Nordhausen und er ist in der SPD. Gut 83.000 Menschen leben hier zwischen Harz und Hainleite, am nördlichen Rand von Thüringen – jenem Land, in dem die Pandemie seit Mitte Januar am stärksten in ganz Deutschland grassiert. In Erfurt, eine Autostunde südlich von Nordhausen, hat an diesem Dienstagmorgen die Staatskanzlei die aktuellen Werte des Robert Koch-Instituts veröffentlicht. Danach wurden in Thüringen binnen einer Woche pro 100.000 Einwohner 120 neue Infektionen mit Corona registriert.

Das ist, so wie an jedem Tag seit Mitte Januar, die höchste Inzidenz in Deutschland. Doch für Nordhausen gilt das nicht. Der Landkreis gehört zu den wenigen Regionen im Land, die sich gegen den Trend stemmen. Für Nordhausen wird eine Inzidenz von 48,0 ausgewiesen, das ist der niedrigste Wert in Thüringen, damit liegt der Landkreis sogar deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Die thüringischen Nachbarn hingegen befinden sich allesamt im roten Bereich, der Landkreis Eichsfeld hat eine Inzidenz von 138,0, der Kyffhäuserkreis 172,5 und der Unstrut-Hainich-Kreis 173,1. Die Zahlen machen einen ganz praktischen Unterschied. Seit Montag haben die Grundschulen und Kindergärten in Nordhausen, Harztor oder Ellrich geöffnet, während im Kyffhäuserkreis, wo der vom Land vorgegebene Grenzwert fast überschritten ist, weiter nur eine Notbetreuung angeboten wird.

In der nächsten Woche, wenn alle Klassen überall dort in die Schulen zurückkehren dürfen, wo die Inzidenz unter 100 liegt, wird Jendrickes Kreis dabei sein. Woran liegt es? Ist es Glück, Zufall oder die Grenznähe zu Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, wo die Neuinfektionen teils ähnlich niedrig sind? Oder hat es doch auch etwas mit dem zu tun, was hier im Nordhäuser Gewerbegebiet geschieht, in dem grauen Haus zwischen dem Lidl-Markt und der Baustelle für die neue Feuerwehrwache, an dem ein großes Schild mit der Aufschrift "Testzentrum" hängt? Liegt es vielleicht sogar am Landrat? Matthias Jendricke, das ist ihm leicht anzumerken, hätte nichts gegen diese Interpretation einzuwenden. Seine erste Amtszeit läuft ab, im April will er wiedergewählt werden; die Corona-Werte, die er jeden Tag stolz in den sozialen Netzwerken verkündet, sind da für ihn besser als jedes Wahlplakat. Dass sein Kreis seit dieser Woche als Erster die Schnelltests unentgeltlich anbietet, fügt sich nahtlos in den Wahlkampf. 

Doch so schlicht, wie es erscheinen mag, ist es nicht. Der Landkreis ist auch insgesamt deutlich besser als die meisten anderen Regionen Thüringens durch die Pandemie gekommen. So verstarben hier 43 Menschen mit dem Coronavirus, das entspricht etwa 52 Toten auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Im Thüringer Durchschnitt liegt diese Rate bei 134, ist also mehr als doppelt so hoch.

Deshalb noch einmal die Frage: Woran liegt es?

Eine vorsichtige Antwort lautet: Jendricke ist schneller als andere. Er handelt, wenn andere zögern, und er handelt konsequent. Schon im Januar vor einem Jahr, das Virus war gerade erstmals mit einer Dienstreisenden aus Wuhan in München gelandet, griff er in Nordhausen durch – und nötigte drei Studentinnen, die kurz davor aus China zurückgekehrt waren, in die Quarantäne. Danach begann er, in großem Stil medizinischen Mund-Nasen-Schutz zu kaufen. Im April führte er als einer der ersten Landkreise der Republik eine Maskenpflicht ein, parallel zur Stadt Jena, als erster Landkreis in der Republik. "Wir brauchen doch eine Exit-Strategie, wenn wieder mehr Läden öffnen und die Leute sich stärker begegnen", sagte er damals. Und diesen Exit bekomme man mit dem Mundschutz besser hin. Seine Argumentation hat sich seitdem nicht geändert.

Sein Modus Operandi auch nicht. Als Ende vergangenen Jahres die zweite Welle vor ihrem Höhepunkt stand, kaufte er 5.000 Schnelltests, auf Kosten des Landkreises, einfach so. "Das summierte sich auf 50.000 Euro, aber die sind gut angelegt", sagt er. Überhaupt verstehe er nicht, warum irgendjemand in der Politik bei den Themen Testen oder Impfen aufs Geld schauen könne: "Jeder Euro, den wir dafür ausgeben, sparen wir später zigfach in den Krankenhäusern oder an Hilfszahlungen für die Wirtschaft." Das bedeutet aber nicht, dass Jendricke nicht rechnet, sein Landkreis ist eher arm. Das Schnelltest-Zentrum brachte er in dem Haus unter, das in einigen Monaten für die neue Leitstelle des Rettungsdienstes abgerissen werden soll. Nun dient es als Mischung aus Teststation und Hotel.