Regungslos liegen Menschen übereinander auf dem Betonboden einer Militäranlage. Zwischen ihnen laufen Polizisten mit Helmen und Schlagstöcken. In der Nähe eines blauen Zauns schlägt einer auf die Beine eines Mannes, ein anderer schmeißt einen Mann auf einen Haufen, wo schon viele eingequetscht am Grenzzaun liegen. So ist es auf Bildern und Videos vom 24. Juni 2022 zu sehen, die an der spanisch-marokkanischen Grenze dokumentieren, was später als das "Massaker von Melilla" bekannt wird, benannt nach der spanischen Enklave in Nordafrika.

An jenem Morgen hatten sich etwa 2.000 Menschen, die meisten aus dem Sudan und Südsudan, zu Fuß aus den umliegenden marokkanischen Wäldern auf den Weg zum Grenzzaun gemacht, um ihn in der Gruppe zu überwinden. Am Abend waren mindestens 27 von ihnen tot, 70 vermisst, Hunderte verletzt.

Bis heute wurden keine Verantwortlichen für die Toten und Vermissten am Grenzposten Barrio-Chino zur Rechenschaft gezogen. Die Organisation Border Forensics hat nun in einem neuen Bericht weitere Belege präsentiert, wie es zu der Gewalt kam und wie sich die Situation für Schutzsuchende an der spanisch-marokkanischen Grenze seitdem verändert hat. Durch die Auswertung von Satellitenbildern, Kartografie und Zeugenaussagen von Überlebenden haben die Rechercheure versucht, das Geschehen zu rekonstruieren.

Ihr Ergebnis: Die marokkanische Polizei drängte die Migranten an diesem Tag an die Grenze, wo gleichzeitig das Militär mit mehr Soldaten und Equipment seine Präsenz drastisch verstärkt hatte. Die Menschen hatten keine Möglichkeit, dem Tränengas, den Gummigeschossen und den Schlagstöcken der marokkanischen Gendarmerie zu entkommen. Zeugen berichteten, wie Hunderte Menschen von der spanischen Armee wieder auf marokkanisches Gebiet zurückgedrängt wurden. Satellitenbilder aus den Tagen davor, die Border Forensics analysiert hat, zeigen, wie sich immer mehr Truppen an der Grenze von Melilla versammeln und auf der marokkanischen Seite des Zauns ein zusätzlicher Graben ausgehoben wird.

"Stirb, du hättest nie herkommen sollen"

Die Brutalität an der spanisch-marokkanischen Grenze erreicht an diesem Tag eine neue Dimension. Aus Videos und Berichten marokkanischer Menschenrechtsgruppen ist belegt, wie spanische Grenzschützer mit Tränengaskanistern direkt auf die Köpfe der Menschen zielen und Menschen mit Stöcken zusammengeschlagen werden. Viele werden später totgetrampelt, als eine Massenpanik ausbricht. Ein 22-jähriger sudanesischer Geflüchteter berichtete gegenüber Border Forensics: "Ein Soldat schlug mich immer wieder. Ich hörte jemanden sagen: 'Raus hier.' Ich sagte: 'Ich kann nicht raus, weil ich verletzt bin.' Ein anderer Soldat kam und zog mich aus dem Loch. Er warf mich in den Hof und sagte: 'Stirb, du hättest nie herkommen sollen.' Ein anderer Soldat gab mir Wasser. Dann brachten sie mich zum Krankenwagen, und ich kam ins Krankenhaus."

Trotz zuvor schon weitreichender Recherchen und jetzt denen von Border Forensics ist bis heute nicht aufgearbeitet, wer für die Toten von Melilla verantwortlich ist. Auch nicht, was mit den Überlebenden passiert, die teilweise noch in Gefängnissen in Marokko einsitzen und die alle bis heute mit den Folgen der Gewalt zu kämpfen haben. Kurz nach dem Vorfall bedankte sich der spanische Premierminister Pedro Sánchez bei den Sicherheitskräften für die Verteidigung der Grenzen. Im Dezember desselben Jahres stellte die spanische Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ein, da sich keine Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes Verhalten spanischer Sicherheitskräfte gefunden hätten. Ein Jahr später, im Dezember 2023, reiste Bundesinnenministerin Nancy Faeser nach Rabat, um die Partnerschaft im Bereich Migration und Sicherheit zu vertiefen.