20 Prozentpunkte: So groß ist der Vorsprung der Labourpartei gegenüber den Konservativen laut Umfragen. Die Partei von Oppositionsführer Keir Starmer wird die Unterhauswahl am 4. Juli sehr wahrscheinlich mit großem Vorsprung gewinnen.

Aber was kann Starmer mit der zu erwartenden hohen Mehrheit bewerkstelligen? Das Land hat zahlreiche Probleme wie das marode Gesundheitssystem, niedrige Löhne oder zunehmende Armut. Eine Rückkehr des Vereinigten Königreiches in die EU könnte dem Land den Schub an Wachstum und Investitionen geben, den es dringend braucht. Meinungsumfragen zufolge wären bis zu 60 Prozent der Öffentlichkeit für eine Rückkehr in die EU. 

Doch davon wird auch unter einer Labour-Regierung keine Rede sein. Starmer, der einst für den Verbleib des Landes in der EU plädierte, hat eine Rückkehr Großbritanniens in die EU-Zollunion und den Binnenmarkt ausgeschlossen, ebenso eine Rückkehr zur Personenfreizügigkeit. Einen Vorschlag der EU-Kommission, jungen Leuten grenzüberschreitend bis zu vier Jahren Studium und Arbeit zu erlauben, lehnten Premierminister Rishi Sunak und Starmer unisono ab. Einerseits will Starmer den Volksentscheid von 2016 honorieren. Andererseits möchte er Brexit-Wähler nicht verprellen. Jeder fünfte britische Wähler rennt immer noch dem Brexit-Politiker Nigel Farage hinterher. Dieser behauptet, der Brexit sei nur nicht "richtig" umgesetzt worden. Außerdem gibt es technische Probleme: Einige der Handelsabkommen, die das Vereinigte Königreich mit Drittstaaten abgeschlossen hat, machen eine Rückkehr in die EU-Zollunion komplizierter.

Schöne neue Welt?

Auch die EU ist zurückhaltend. Einerseits will die EU-Kommission wieder eine engere Kooperation. Aber niemand weiß, wie lange Labour regieren wird. Die Öffentlichkeit erwartet von Starmer, dass er die schlechte Situation nach 14 Jahren Tory-Regierung schleunigst ändert. Ihm fehlt aber im Gegensatz zum ehemaligen Labour-Premier Tony Blair das Geld. Sollte Starmer die Probleme des Landes nicht zügig in den Griff bekommen, besteht die Gefahr, dass die Öffentlichkeit bei der nächsten Wahl im Jahr 2029 frustriert eine Alternative sucht und dann die politische Rechte wählt. Es ist ein Szenario, auf das sich ein Teil der Konservativen und Farage, Vorsitzender der Partei Reform, bereits vorbereiten. Diese Brexit-Verfechter würden aber eine Annäherung an die EU torpedieren. Die EU kann also schlecht abschätzen, ob Vereinbarungen mit Labour auch von Dauer wären.

Dennoch werden Großbritannien und die EU mehr zusammenrücken wollen. David Lammy, außenpolitischer Sprecher von Labour, kündigte an, seine Partei wolle die Handelsbeziehung mit der EU verbessern. Geplant ist zudem ein Abkommen, das die Themen Militär, Wirtschaft, Klima, Gesundheit, Cyber- und Energiesicherheit umfassen könnte. 

Unabhängig, ob es zustande kommt: Großbritannien ist gezwungen, EU-Regulierungen zu folgen, damit die Handelsbarrieren mit der EU und die Kosten für die Exportindustrie nicht zu groß werden. Da die EU ständig neue Vorschriften erlässt, würde die Kluft zwischen der EU und Großbritannien in Handelsfragen immer größer. Es sei denn, Großbritannien zieht mit. 

Das Vereinigte Königreich ist zu einem "rule taker" geworden

Von den vermeintlichen "Brexit-Vorteilen" hat das Land ohnehin nicht viel gehabt. Obwohl der damalige Premierminister Boris Johnson Alleingänge bei den Themen Datensicherheit, Genmodifikation, künstlicher Intelligenz und Medizin versprach, stellte seine Regierung kein schlüssiges Wirtschaftskonzept für diese Branchen vor. Viele Vorhaben – einschließlich der Abschaffung Tausender noch bestehender EU-Regulierungen – wurden nach Johnsons Rücktritt stillschweigend fallen gelassen. 

Jetzt geht es vielmehr darum, wie sich Großbritannien der EU annähern kann. Ein Beispiel: Ab Januar 2026 wird die EU im Rahmen des europäischen CO2-Grenzausgleichsystems Zölle auf emissionsintensive Produkte wie Stahl und Zement erheben, was den Export britischer Produkte in die EU verteuern würde. Dies kann Großbritannien nur verhindern, indem es auch so ein System aufbaut und beide gekoppelt werden. 

Oder: Da Großbritannien nun ein Drittstaat ist, werden Lebensmittel beim Import und Export beiderseits der Grenzen – mit entsprechender Bürokratie und Verzögerung – kontrolliert. London hat seine eigenen Kontrollen zwar hinausgezögert. Aber es muss eine Lösung gefunden werden. Die läge in einem beiderseitigen Veterinärabkommen, mit dem die umfangreichen Kontrollen von Tieren, tierischen Produkten und Pflanzen vermieden werden könnten. Die EU wäre nach Angaben des EU-Botschafters in Großbritannien dazu bereit, aber nur, wenn Großbritannien den Bestimmungen der EU folgen würde. Wie die auszulegen sind, würde aber nicht auf der Insel entschieden – sondern vom Europäischen Gerichtshof. 

Schon jetzt wettern britische Medien wie die Tageszeitung The Telegraph dagegen, dass Labour den Brexit zurückdrehen und das Land wieder Urteilen eines "fremden Gerichtes" unterwerfen wolle. Ähnliches würde geschehen, wenn Großbritannien ein Abkommen für die Chemieindustrie aushandeln wollte, um den Unternehmen teure Doppelregistrierung von Chemikalien in Großbritannien und der EU zu ersparen. Das sind nur einige Beispiele. Großbritannien ist damit unwillkürlich zum "rule-taker" geworden, einem Land, das zwar den EU-Vorschriften folgen muss, sie aber nicht mehr beeinflussen kann – das Gegenteil dessen, was der Brexit versprochen hatte.

Freundschaft unter Vorbehalt

Aber auch die EU-Kommission hat Wünsche an das Vereinigte Königreich. Da ist etwa das erwähnte Mobilitätsabkommen, das jungen Leuten grenzüberschreitende Arbeitserfahrung bieten könnte, möglicherweise auch eine Rückkehr von Großbritannien in das Erasmus-Programm. Zudem wartet die Kommission auf eine Annäherung beim Thema Wasserstoff, den die EU gern aus dem Vereinigten Königreich per Pipeline importieren würde. Er soll helfen, das Null-Emissionen-Ziel bis zum Jahr 2050 zu erreichen.

Das Problem für die Londoner Regierung: Die EU will zwar eine Annäherung, ist aber nicht bereit, Labour das berüchtigte "Rosinenpicken" durch die Hintertür zu erlauben. Die Vorstellung Londons, dass das mit der EU ausgehandelte Handels- und Kooperationsabkommen in zwei Jahren neu verhandelt werden könnte, hat Brüssel abgelehnt. Die Kommission ist zu technischen Verbesserungen bereit, die die Umsetzung des Vertrages erleichtern könnten, aber nicht zu mehr. 

Auch die von dem außenpolitischen Sprecher Lammy erwünschte Annäherung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit der EU wird komplizierter als von London erhofft. In dem Handels- und Kooperationsabkommen ist die Zusammenarbeit in Sachen Proliferation, Cyberkriminalität und Terrorismusbekämpfung zwar in Form von "Dialogen" vorgesehen. Aber die Zusammenarbeit bewegte sich bisher nur schleppend voran. 

In der Verteidigungspolitik ist die Zusammenarbeit ebenfalls kompliziert. Zwar ist die EU nicht abgeneigt, enger zu kooperieren, zumal sie künftig enger mit den USA, Norwegen und Island kooperieren wird. Auch Großbritannien ist ein militärisch wichtiger Partner, primär bei gemeinsamen Missionen in den baltischen Ländern, in Afrika und dem Mittleren Osten. Aber die EU wird vorsichtig sein, dem Vereinigten Königreich keine bevorzugte Sonderrolle einzuräumen. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vereinbarte die EU die sogenannte ständige strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) für Sicherheit und Verteidigung und gründete den Europäischen Verteidigungsfonds. Der überweist Mitgliedsländern Geld für Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich. Von ihm wird Großbritannien als Drittstaat nicht profitieren können. Und auch Pesco zielt darauf ab, die Verteidigung der EU zu stärken und nicht von Drittstaaten abhängig zu sein. 

Es ist also ein schmaler Grat von Rivalität und Partnerschaft, den beide Seiten einschlagen müssen, wenn Ende des Jahres die neue EU-Kommission steht und Verhandlungen beginnen können. Beide Seiten warten auf die neue Phase der Annäherung. Aber für die britische Öffentlichkeit wird sich vorerst nicht viel ändern. Eine Rückkehr des Vereinigten Königreiches in die EU ist auf Jahre nicht in Sicht. Britische Familien werden daher im Sommer wieder geduldig vor der Überfahrt von Dover nach Frankreich warten müssen – auch unter einer Labour-Regierung.