Es ist ein historisches Wahlergebnis. Und das ist in diesem Fall tatsächlich einmal nicht übertrieben. Die republikanisch-katholische Partei Sinn Féin hat in Nordirland die Parlamentsmehrheit errungen und damit ein Jahrhundert der unionistischen Dominanz beendet. Das verleiht der Bewegung für eine Vereinigung der gesamten irischen Insel Schub, die probritischen Kräfte hingegen sind so schwach wie nie zuvor. Sinn Féin gewann 29 Prozent der abgegebenen Erststimmen. Die Vizevorsitzende der Partei, Michelle O'Neill, kann so Erste Ministerin werden. Das Amt würde auf sie fallen, da Parteichefin Mary Lou McDonald in Dublin und nicht Belfast ist, da die Partei gesamtirisch organisiert ist. Die Democratic Unionist Party (DUP), bisher stärkste Partei, verlor deutlich und liegt derzeit bei lediglich 21,3 Prozent der Erststimmen. Ein Endergebnis wird für diesen Samstag erwartet.

Der Erfolg von Sinn Féin rückt die Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit Irland zwar nicht in unmittelbare Nähe, hat aber ungemein symbolischen Wert. Der Triumph der Partei hatte sich seit Monaten abgezeichnet. Das liegt zum einen an den Fehlern der DUP. Die Partei war im Gegensatz zur Mehrheit der Nordiren engagiert für einen EU-Austritt eingetreten, weil sie sich davon eine stärkere Anbindung an Großbritannien versprach. Eingetreten ist jedoch das genaue Gegenteil: eine Zollgrenze in der Irischen See und damit viele Probleme für nordirische Unternehmen. Ein weicher Brexit, bei dem Großbritannien in der europäischen Zollunion verblieben wäre, hätte dies verhindern können. Aber die DUP stellte sich hinter die Politik eines harten Brexits von Boris Johnsons. Die DUP glaubte dessen Versprechen, dass er keine Grenze in der Irischen See tolerieren würde. Freilich tat er es dann trotzdem.

Aber der Niedergang der DUP ist nicht nur dem Brexit geschuldet, der unter anderem gemäßigte Unionisten dazu bewegte, ihre Stimme der liberalen Zentrumspartei Alliance Party zu geben. In der nordirischen Gesellschaft bewegt sich etwas, sowohl in konstitutionellen wie auch sozialen Fragen. So zeigte bereits vor fünf Jahren eine Studie, dass jüngere Protestantinnen und Protestanten die gleichgeschlechtliche Ehe und das Recht von Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch mit überwältigender Mehrheit unterstützen. Doch die erzkonservative DUP lehnt beides ab. Sie bleibt hartnäckig der Vergangenheit verhaftet. Ähnlich verhält es sich bei der Frage der Identität: 2020 gaben 49 Prozent der 18- bis 24-jährigen Nordiren in einer Befragung an, sich weder als Unionisten noch als Nationalisten zu bezeichnen (bei den über 65-Jährigen sind es nur 34 Prozent). Das beeindruckende Ergebnis der Alliance Party, die sich weder mit dem unionistischen noch mit dem republikanisch-nationalistischen Lager identifiziert, ist ein Ausdruck dieses Trends.

Die DUP hingegen setzt ganz auf die konstitutionelle Frage und warnt stetig vor der Gefahr einer irischen Wiedervereinigung. Auch im Wahlkampf setzte sie darauf, um einen Sieg der Nationalisten zu verhindern. Am Ende schadete es der Partei selbst. 

Die IRA-Assoziation ist für viele weniger relevant

Demgegenüber hat sich Sinn Féin in den vergangenen Jahren zunehmend vom früheren sozialen Konservatismus verabschiedet. Sie ist explizit proeuropäisch. Und die Partei unterstützt heute sowohl das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch als auch die gleichgeschlechtliche Ehe. Darüber hinaus ist Sinn Féin bemüht, die frühere Rolle im bewaffneten Konflikt, der bis Mitte der Neunzigerjahre andauerte, vergessen zu machen. Wurde die Partei früher lediglich als der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gesehen, ist diese Assoziation mittlerweile für viele Nordiren weit weniger relevant geworden, besonders für die jüngeren. Dass auch viele Sinn-Féin-Politiker einer neuen Generation von Nationalisten angehören, hat diesen Imagewandel begünstigt. Michelle O'Neill zum Beispiel war erst 21 Jahre alt, als 1998 das Karfreitagsabkommen geschlossen wurde.

Und so liegt der Erfolg von Sinn Féin auch darin, dass die Kandidatinnen und Kandidaten während des Wahlkampfs die konstitutionelle Zukunft Nordirlands nicht zum Hauptthema gemacht haben. Stattdessen hat sie über Probleme gesprochen, die für die gesamte Bevölkerung relevant sind: die immer höheren Lebenshaltungskosten, steigende Mieten, die schlechte staatliche Gesundheitsversorgung NHS. Anfang April sagte Michelle O'Neill, dass sich die Leute nicht jeden Tag mit dem Gedanken herumschlagen würden, ob Nordirland ein Teil Großbritanniens bleiben sollte – alltägliche Probleme seien wichtiger. Laut einer neueren Umfrage würde weniger als ein Drittel der Nordiren derzeit für eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland stimmen. Für eine sogenannte border poll, eine Grenzabstimmung, müsste außerdem die Regierung in London die Zustimmung geben. Sie wird es erst dann tun, wenn sich abzeichnet, dass ein großer Teil der nordirischen Bevölkerung einer Wiedervereinigung zustimmen würde. Und dann wäre sie nach dem Karfreitagsabkommen auch dazu verpflichtet.

Dennoch wird der Sieg von Sinn Féin die Debatte erneuern. Zumal die Partei auch in der Republik Irland immer beliebter wird. Mit ihrer sozialdemokratischen Politik, etwa über Versprechen von höheren Sozialleistungen, erschwinglichen Wohnungen und Steuererhöhungen für Besserverdienende, liegt die irische Sinn Féin nach derzeitigen Umfragen weit vor allen anderen Parteien. Sollten die Nationalisten 2025 in Dublin an die Regierung kommen, dann wäre in Irland und Nordirland eine Partei an der Macht – und zwar die, die die gesamte Insel zu einem Staat vereinen will.

Sinn Féins womöglich erfolgreiche Zukunft wird auch von der demografischen Entwicklung begünstigt: Der katholisch-republikanische Bevölkerungsanteil in Nordirland wächst seit langer Zeit, der protestantisch-unionistische hingegen schrumpft. Die Resultate der jüngsten Volkszählung werden bald publiziert, schon jetzt könnten die Katholiken in der Mehrheit sein.

Unmittelbar ist jedoch in Nordirland eine andere konstitutionelle Frage drängender: Wie geht es weiter mit der Regierung in Belfast? Die DUP hat bereits angekündigt, dass sie sich nicht an einer Regierung beteiligen will, solange das Nordirland-Protokoll nicht verworfen oder zumindest erheblich verändert wird. Mit dieser Weigerung widersetzen sich die Unionisten jedoch dem Prinzip der Machtteilung, wie es im Karfreitagsabkommen festgeschrieben ist: Demnach müssen sowohl Republikaner als auch Unionisten in der Regierungsspitze vertreten sein. Entweder als Erster oder Zweiter Minister. Die Regierungsbildung in Nordirland, sie dürfte schwierig werden.