Diese Woche hat in Großbritannien die Massenimpfung mit dem größtenteils in Deutschland produzierten Covid-19-Impfstoff von BioNTech/Pfizer begonnen. Doch in Amsterdam sagte der Impfstrategiechef der Europäischen Arzneimittelbehörde, Fergus Sweeney, zu ZEIT ONLINE: "Wir dürfen nichts überstürzen." Riskiert die Behörde damit kurzfristig Menschenleben oder rettet sie sie langfristig? Oder trifft beides zu?

Es ist ein Thema, das auch Mediziner entzweit. Wie schnell soll in Europa gegen Covid-19 geimpft werden? Am Freitag vergangener Woche griff der Arzt Peter Liese (CDU) empört zum Telefon. Der gesundheitspolitische Sprecher der größten EVP-Fraktion im Europäischen Parlament ist ein gefragter Mann, seit seine Arzt- und Parteikollegin Ursula von der Leyen im Zuge der Pandemie die Impfstoffpolitik in Brüssel zur Chefinnensache gemacht hat. Liese rief am Freitag beim Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, an.

Reinhardt hatte tags zuvor im Deutschlandfunk gesagt, die Zulassung des Impfstoffes gehe zu langsam, schuld sei die zuständige Europäische Arzneimittelagentur (EMA), die nicht schnell genug arbeite. Liese widersprach: "Reinhardt hat meine Argumente aufgenommen und ist zurückgerudert", berichtet Liese anschließend ZEIT ONLINE. Doch der öffentliche Streit geht weiter.

"Ganz Europa einschließlich der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) weiß seit März, wie wichtig die Impfstoffzulassung ist. Da gibt es weder eine mangelnde Priorisierung noch eine unnötige oder gar willkürliche Verzögerung. Allerdings muss die Entscheidung mit klarem Kopf gefällt werden, so wie jeder Arzt nur ausgeschlafen operieren sollte", sagt Liese.    

Doch was macht die Arbeit der EMA in diesen Tagen so wichtig, dass sie eine Zulassung des Impfstoffes, der kurzfristig Menschenleben retten könnte, nicht vor dem 29. Dezember verfügen will, dem Tag, für den die Behörde eine Zulassung bereits in Aussicht gestellt hat? Der Verdacht liegt nahe, dass dort alles erst mal seinen guten, bürokratischen Gang gehen muss und in der Zwischenzeit unnötig Menschenleben geopfert werden.

Inspektoren im Einsatz für den Impfstoff

Dem aber widerspricht am Dienstag der Impfstrategiechef der EMA, der Pharmazeut Fergus Sweeney: "Glauben Sie mir, wir arbeiten unter Hochdruck", versichert Sweeney im Interview. "Aber wir dürfen nichts überstürzen, denn wir brauchen einen Impfstoff, dem die Öffentlichkeit vertraut, um langfristig Infektionen zu verhindern und Menschenleben zu retten", so Sweeney. Die Frage, ob die Behörde damit kurzfristig Menschenleben aufs Spiel setze, beantwortet Sweeney nur indirekt: "Schon jetzt gibt es in der Öffentlichkeit auch die Wahrnehmung, dass wir zu schnell handeln", sagt der Impfchef der EMA.

Es geht hier also offenbar um ein schwieriges, schwerwiegendes Abwägen, wie sich Menschenleben am besten retten lassen. Aber sollten dann die Argumente nicht sämtlich in die Öffentlichkeit? Hier zögert die EMA.

So könnte Sweeney erklären, was genau die EMA in diesen Tagen noch aufhält, eine Zulassung für den BioNTech-Impfstoff zu erteilen. Doch weder will er die Namen der nationalen Institute nennen, welche die EMA beauftragt hat, den BioNTech-Impfstoff zu prüfen, noch die Länder, die im wissenschaftlichen Rat der EMA (CHMP) die Untersuchungen überwachen und zur Entscheidungsfindung ein abschließendes, oft vorentscheidendes Gutachten vorlegen. Die Arbeitsteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten, der EMA und den nationalen Instituten bleibt somit weitgehend im Dunkeln.

"Inspektoren aus den Mitgliedstaaten untersuchen die Produktionsstätten für den Impfstoff", teilt Sweeney immerhin mit. Auch bestätigt er, dass die EMA weiterhin neue Daten von den Konzernen anfordert: "Wir brauchen neue Dokumente von den Unternehmen. Das ist ein sehr gründlicher Prozess", sagt er. Doch ob das auch im Fall von BioNTech gilt, will er im Einzelfall nicht bestätigen. "Darüber kann ich nicht informieren", sagt Sweeney und verweist immer wieder auf den "öffentlichen Prüfungsbericht", den die EMA drei Tage nach Bekanntgabe ihrer Zulassung, also voraussichtlich am 1. Januar 2021, ins Netz stellen werde. Da wird dann womöglich vieles nachzulesen sein, was heute schon ein Einsehen schaffen könnte, warum die Behörde immer noch prüft.

Die Covid-19-Taskforce

Man fragt sich dennoch, warum die Behörde, die sich brüstet, mit einer Covid-19-Taskforce ganz neue Strukturen für die Impfstoffzulassung geschaffen zu haben, in der Pandemie nicht auch anders kommuniziert. Könnte sie Teile des Prüfungsberichts nicht schon heute veröffentlichen? Sweeney verneint.

Nach außen wirkt das manchmal so, als hätte die EMA doch etwas zu verbergen. Fehlt ihr nach dem Brexit-bedingten Umzug von London nach Amsterdam im vergangenen Jahr, als ein Drittel der Mitarbeiter die Agentur verließ, immer noch das eingespielte Personal, wie es EMA-Chefin Emer Cooke im Frühjahr einigen EU-Parlamentariern erzählte? "Wir haben genug Personal", räumt Sweeney ein. Und betont, dass die EMA ja auch noch anderes, wie die Zulassung von neuen Krebsmedikamenten, zu erledigen habe. So aber kann der Impfchef der EMA den Eindruck nicht völlig widerlegen, dass ihm Journalistenfragen auf die Nerven gehen. "Wir müssen die Mitglieder des CHMP zu dem befähigen, was sie zu tun haben", wehrt er direkte Fragen an den wissenschaftlichen Rat der EMA ab. Als würden Fragen der Öffentlichkeit gerade stören. Auf das Gespräch mit Sweeney musste ZEIT ONLINE fünf Tage warten.