Es war an einem Morgen im Juni, da wachte Joel auf, sah auf sein Handy, las die ganzen Nachrichten im Klassenchat der 11A: Joel, was ist los? Das fragten sie alle. Er stand auf, ging zur Schule und seine Mitschüler dort fragten noch immer: Stimmt das, du sollst abgeschoben werden? Joel sagt, er sei ein schüchterner Mensch. Als um ihn herum, auf dem Pausenhof der Nelson-Mandela-Schule im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, plötzlich alle wussten, dass er nach Ghana abgeschoben werden soll, da sei ihm ganz schlecht geworden.

Nun, am Vormittag des 11. Juli, steht Joel vor dem Hamburger Rathaus, überall sitzen Schülerinnen und Schüler, halten ein großes Banner hoch, auf dem riesig sein Gesicht abgebildet ist. Drei Mädchen, Gentiana, Rama und Erva sagen, vor ein paar Tagen hätten sie hier, in der Innenstadt, noch Flyer verteilt. Sie sammelten Unterschriften für die Petition: "1-2-3-4, Joel bleibt hier!" Gentiana sagt, manche hätten nach dem Grund gefragt: Warum soll Joel denn abgeschoben werden? Das, sagten sie, wüssten sie ja auch gerne. Fair sei das nicht, sagt Rama, er sei doch einer von ihnen. 

Joel, 18, der nach Beschluss der Härtefallkommission der Hamburgischen Bürgerschaft nicht nach Ghana abgeschoben wird. © Tizian Machtolf für DIE ZEIT

 Joel ist 18 Jahre alt, seit vier Jahren lebt er in Hamburg. Er kam als unbegleiteter Minderjähriger aus Ghana nach Hamburg, und erhielt hier das Recht auf Aufenthalt aus humanitären Gründen. Mit seiner kleinen Schwester lebt er nun bei seinem Vater, der als Lagerist für Amazon arbeitet. Joel arbeitet auch, zweimal in der Woche jobbt er neben der Schule bei Edeka, von 16 bis 21 Uhr. Und in zwei Jahren werde er, so prognostiziert es seine Klassenlehrerin, erfolgreich sein Abitur machen. Joel sei einer ihrer engagiertesten, zuverlässigsten und interessiertesten Schüler.

Seine Lehrerin setzte sich für Joel ein – ihre Petition unterschrieben 104.784 Menschen

Joel hat allerdings bis heute keinen deutschen Pass und Ghana gilt den Behörden als sicheres Herkunftsland. Als er seinen Aufenthaltstitel kurz vor seinem 18. Geburtstag verlängern wollte, wurde das abgelehnt. Seitdem gilt er in Hamburg als geduldet, ihm droht also ständig die Abschiebung. Im Juni dann ging Joel zu seiner Klassenlehrerin, und zeigte ihr einen Brief seiner Anwältin: Ob sie, Elif Basboga, ein paar Zeilen über ihren Schüler schreiben könnte? Die Härtefallkommission der Bürgerschaft entscheide darüber, ob er nach Ghana abgeschoben werde. Oder, ob er die Chance bekomme, in Hamburg zu bleiben.

Seit 15 Jahren lehrt Elif Basboga Deutsch und Mathe an Gymnasien, im Berliner Steglitz-Zehlendorf habe sie es Jugendlichen aus gutbürgerlichen Haushalten beigebracht, in Wolfsburg lauter Schülern, die "schon mit grafikfähigen Taschenrechnern ausgestattet waren". Joel, sagt sie, gehöre zu einer Schülerschaft, die aus einem bildungsfernen Elternhaus stamme, und: "Leider sind es genau diese Schüler, denen meistens keine Beachtung geschenkt wird. Sie gehen unter, sie werden nicht wahrgenommen, sie verschwinden, sie werden abgeschoben."

Also versuchte Elif Basboga, genau das zu verhindern. Sie bemühte sich darum, dass Joel nicht einfach so verschwindet, sondern wahrgenommen wird. Sie startete eine Onlinepetition. Sie erzählte es, in Absprache mit Joel, seiner Klasse, dem Kollegium, irgendwann wusste es die ganze Schule. Für Joel war das am Anfang schwierig: Sein Gesicht und seine Geschichte waren überall. Doch als die Zahl der Unterschriften immer weiter stieg, auch Mitschüler, die ihn vorher nicht mal kannten, Flyer für ihn auf der Straße verteilten, da wurde er etwas mutiger.

Vor dem Rathaus schreibt nun, um 8.27 Uhr, eine Schülerin mit schwarzem Filzstift auf ein Plakat, wie viele Menschen die Petition für Joel unterschrieben haben: 104.784. 

Um 8.46 Uhr betritt SPD-Politiker Ekkehard Wysocki, Vorsitzender der Härtefallkommission, das Hamburger Rathaus, die Tafel mit der Unterschriftenzahl trägt er in seiner Hand.

Um 9.00 Uhr beginnt die Sitzung der Härtefallkommission, vier Abgeordnete der Bürgerschaft verhandeln mehrere Fälle, darunter auch den von Joel. Auf diesem Verhandlungstisch liegen dann auch: die Stellungnahmen seiner Lehrerin, seiner Klasse, den Eltern der Schule.