Psychiater vergleichen sie manchmal mit einer Krücke: Wer in eine schwere Depression fällt, braucht vielleicht eine Zeit lang ein Antidepressivum – das ihn stützt wie eine Krücke ein gebrochenes Bein. Und wenn der Bruch verheilt ist, die ersten Schritte getan sind, dann wird es Zeit, die Krücke abzulegen. Genauso sollten Patientinnen mit psychischem Leid ihre Antidepressiva irgendwann absetzen. Wenn das Leben auch wieder allein gelingt, ohne Stütze.

Das Problem ist nur: Bei manchen Patienten führt das Absetzen zu Beschwerden. Schlafprobleme, Reizbarkeit, Schwindel, Schmerzen, die wie kleine Stromschläge durch den Körper fahren. Psychiater und Psychologinnen sprechen von "Absetzreaktionen" oder einem "Absetzsyndrom". Schon seit Ende der Fünfziger, als die ersten Antidepressiva auf den Markt kamen, sind diese Nebenwirkungen bekannt. Doch erst seit den Neunzigern werden sie erforscht. Wie häufig sie vorkommen, war bis jetzt nicht genau zu beziffern. Es mangelte an systematischen Studien. Eine Übersichtsarbeit berichtete 2019, jeder zweite Patient sei betroffen. Die Masse an Forumsbeiträgen und TikTok-Videos bestätigt diesen Eindruck. Doch stimmt er auch?