Der Fall um den verschwundenen Arian aus Bremervörde beschäftigt seit einer Woche viele Menschen in Deutschland. Der autistische Junge ist von zu Hause losgelaufen und nicht zurückgekehrt. Stephan Bender leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln und forscht unter anderem zu Autismus bei Kindern.

ZEIT ONLINE: Herr Bender, kommt es bei autistischen Kindern häufiger vor, dass sie einfach loslaufen und plötzlich verschwinden?

Stephan Bender: Ja, das ist tatsächlich so – vor allem, wenn ein Kind schwerer betroffen ist und Gefahren nicht so gut einschätzen kann.

ZEIT ONLINE: Laut einer Umfrage aus den USA verschwindet mehr als jedes vierte autistische Kind zumindest zwischenzeitlich irgendwann mal vom Spielplatz oder in der Nachbarschaft. Wieso ist das so?

Bender: Das kann daran liegen, dass sich Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung mehr für Details in ihrer Umgebung interessieren und tendenziell weniger soziale Nähe suchen. Oft fehlen ihnen auch natürliche Schutzmechanismen: Sie bekommen keine Angst, wenn sie sich von zu Hause entfernen, und laufen einfach weiter.

ZEIT ONLINE: Wie bewegt sich ein autistisches Kind durch seine Umwelt?

Bender: Menschen auf dem Autismus-Spektrum kann es sehr leichtfallen, sich in Details zu vertiefen. Das kann die Umwelt sehr spannend machen und Neugier wecken. Wenn so ein Junge durch die Nachbarschaft läuft, dann sieht er vielleicht nicht die Autos und die Straße – sondern den Bordstein und den Asphalt, er sieht die vielen Räder, die Auspuffe und Glasscheiben. Sensorische Eindrücke werden in ihren Einzelteilen verarbeitet, nicht in großen Zusammenhängen. Dadurch kommt es aber auch schnell zu einer Reizüberflutung – was es schwerer macht, sich zurechtzufinden.

ZEIT ONLINE: Gerade hört und liest man wieder viele typische Eigenschaften, wie ein autistischer Junge wahrscheinlich ist: sozial verschlossen, stumm, in sich gekehrt. Wie sehr gleichen sich autistische Kinder wirklich? 

Bender: Erst mal ist Autismus ein Spektrum, das zeigt ja schon der Name: Autismus-Spektrum-Störung. Man sagt heute nicht mehr, jemand ist ein Autist oder kein Autist. Stattdessen betrachtet man die Symptome auf einem Kontinuum, von leicht bis schwer. Autismus ist eine genetisch bedingte Erkrankung, sie wird aber beeinflusst durch sehr viele unterschiedliche genetische Faktoren. Autismus ist also nicht gleich Autismus

ZEIT ONLINE: Was verbindet diese Kinder?

Bender: Sie haben Schwierigkeiten in sozialen Begegnungen, in der Kommunikation und sie zeigen oft repetitives Verhalten, wie ein Flattern der Arme oder rhythmische Bewegungen mit dem Oberkörper. Es gibt da gewisse Unterschiede, aber die Symptome laufen zumindest in die gleiche Richtung. Wir haben Patienten, die keinen Blickkontakt aufnehmen können und auch nicht mit Worten kommunizieren. Da hat man als Psychiater wirklich das Gefühl, man kommt nicht an sie ran. Wir haben aber auch Patienten, die gerne sozial integriert sein möchten, die Kontakt suchen, aber dann zum Beispiel ihre Emotionen schwerer ausdrücken und regulieren können, was zu Konflikten führt oder zu Ausgrenzung.

ZEIT ONLINE: Stimmt es, dass Autismus bei Mädchen seltener erkannt wird? 

Bender: Es gibt Leute, die sagen: Männlichkeit ist eine verdünnte Form von Autismus. Da Mädchen generell ein bisschen "sozialer" sind als Jungen, erkennt man eine Autismus-Spektrum-Störung bei ihnen tatsächlich etwas schwerer. Sie sind aber auch ein bisschen besser genetisch davor geschützt, da manche Gene, die mit Autismus-Spektrum-Störungen zusammenhängen könnten, sich auf dem X-Chromosom befinden. Mädchen haben bekanntermaßen zwei X-Chromosomen, sodass Veränderungen besser aufgefangen werden könnten.

ZEIT ONLINE: Was sind die größten Irrtümer über das Störungsbild?

Bender: Viele haben sicherlich den Film Rain Man gesehen. Dustin Hoffman spielt darin einen autistischen Mann, der ein fotografisches Gedächtnis hat, sehr schnell rechnen kann und Lieder perfekt auf dem Klavier nachspielt, wenn er sie nur einmal gehört hat. Solche Inselbegabungen gibt es leider selten. Autisten sind meistens keine Überflieger, keine Supermenschen, keine Computer in Menschengestalt. Und es stimmt auch nicht, dass sie gefühllos oder unempathisch sind. Die Mehrzahl, die nicht ganz schwer betroffen ist, kann grundlegende Emotionen, bei sich selbst und anderen, durchaus wahrnehmen.

ZEIT ONLINE: Über Arian aus Bremervörde wurde geschrieben, dass sein Autismus ihn sogar schützen könnte: weil er sich vielleicht leichter tut, Gräser zu essen, aus Pfützen zu trinken, keine Angst im Dunkeln hat. Autismus wurde wie eine Art Superkraft dargestellt – in diesem Fall sicherlich auch, um die Hoffnung hochzuhalten. Aber stimmt diese Darstellung? 

Bender: Mit dieser Frage tue ich mich schwer. Natürlich will man in so einer Situation das Positive sehen, das ist wichtig. Aber eine Superkraft ist Autismus sicher nicht. Generell ist Autismus eher ein Risikofaktor, diese Kinder brauchen mehr Unterstützung. Andere Kinder würden vielleicht nicht einfach in den Wald oder eine andere unheimliche Umgebung laufen, und wenn, dann würden sie irgendwann selbstständig Passanten suchen, um nach Hilfe zu fragen. Vor allen bei schweren Formen fehlt Kindern dieser Schutzschild, ein natürlicher Kompass – weil sie weniger Angst und weniger ein Bedürfnis nach sozialer Nähe verspüren. Das kann zwar auch etwas Positives sein, aber die negativen Folgen gleichen das leider wieder aus, mindestens.

ZEIT ONLINE: Sie betonen die schweren Formen. Dann sind autistische Kinder nicht generell weniger ängstlich? 

Bender: Nein. Kinder mit Autismus haben nicht generell weniger Angst. Es kann sogar sein, dass sie soziale Ängste entwickeln. Vor allem in der Pubertät machen sich Kinder viele Gedanken: Wie sehen mich die anderen? Komme ich gut an? Wenn man dann noch zusätzlich verunsichert ist, können sich Ängste verstärken. Das betrifft vor allem Kinder, die weniger stark vom Autismus-Spektrum betroffen sind.

ZEIT ONLINE: Neben dem Weglaufen – gibt es weitere Situationen, in denen autistische Kinder im Alltag gefährdeter sind?

Bender: Eigentlich alles, wo eine Gefahreneinschätzung notwendig ist: Bücher und Spielzeug auf einen Stuhl stapeln und dann hochklettern. Mit Messern hantieren. Steile Treppen runterrennen. Eigentlich lernen Kinder diese Gefahreneinschätzung im Kleinkindalter, mit autistischen Kindern muss man manche Dinge richtig trainieren. Denn oft übertragen sich diese Lernfortschritte nicht auf andere, ähnliche Situationen: Wenn ich die große Schere in der Küche nicht benutzen darf, weil ich mir damit in die Finger schneiden kann, dann trifft das auf die Nagelschere im Bad nicht automatisch zu. Die Risiken sind vielfältig, und die Eltern brauchen viel Anleitung. Andererseits sollten sie ihr Kind natürlich auch nicht in Watte packen.

ZEIT ONLINE: Das klingt nach einem Spagat. Was empfehlen sie besorgten Eltern? Wie findet man ein gutes Mittelmaß?

Bender: Letztlich gilt für sie dasselbe wie für alle Eltern: so viel Unterstützung wie nötig, so wenig Unterstützung wie möglich. Nur ist eben die Schwelle verschoben. Bei jedem Kind ist das anders und die Eltern müssen immer wieder neu bewerten: Wo sind Gefahren? Wo sind Freiheitsgrade? Aber sein Kind 24 Stunden lang nicht aus den Augen zu lassen, das ist praktisch unmöglich. Und auch nicht gut, denn Selbstständigkeit ist wichtig und fällt nicht vom Himmel, die müssen Eltern auch fördern. Wir ermuntern die Eltern daher, ihrem Kind nicht alles abzunehmen. Wenn man sich dafür zum Beispiel sogar beruflich einschränkt, ist es schwer, irgendwann loszulassen.

ZEIT ONLINE: Werden Familien gut dabei unterstützt?

Bender: Leider nein. Gerade bei Autismus-Spektrum-Störungen sind die Wartezeiten auf einen Therapieplatz lang, manche Patienten warten Jahre und das, obwohl die Früherkennung und Frühinterventionen so wichtig sind.

ZEIT ONLINE: Da nun die Aufmerksamkeit auf dem Thema liegt: Können wir als Gesellschaft etwas über unseren Umgang mit Autismus lernen?

Bender: Es ist notwendig, dass alle hingucken. Man kann nicht Inklusion fordern und dann schauen, was passiert. Wir als Gesellschaft, als Nachbarn, als Freunde sollten aufmerksam sein, uns kümmern, schauen, wie wir betroffene Familien unterstützen können und gemeinsam ein Sicherheitsnetz spannen.