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Marlene: Ich hätte nie gedacht, dass ich mir am Abend vor meiner Bioklausur Gedanken darüber mache, welche Masken ich mitnehme, welche Decke ich einpacke und ob ich Handschuhe brauche. Ich hole jetzt meine Skisachen raus. Nicht um in den Skiurlaub zu fahren, sondern um meine Bioklausur zu schreiben. 

Luna: Alle sagen: Der Stress ist normal. Abi ist immer stressig. Aber niemand versteht, dass es mehr ist als nur Abistress.

Manon: Hoffentlich sagen die Unis später nicht: Oh, Abi 2021, da war ja was. 

Als die Pandemie ausbricht und die Schulen in Deutschland zum ersten Mal schließen, sind Marlene, Luna und Manon 16 Jahre alt. Sie gehen zu dem Zeitpunkt in die 11. Klasse des Alten Gymnasiums in Bremen. Damals glauben sie, dass bloß ihre Osterferien verlängert werden.

Janne: Im Vergleich zu jetzt war der erste Lockdown fast eine Entspannung. Wir konnten ja gar nicht absehen, was kommt.

Evangeline: Ich habe gelernt, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Aber irgendwie war es auch einsam.

Luna: Im ersten Lockdown hatten wir einfach nur Aufgaben. Onlineunterricht gab es da nicht.

Seitdem ist fast ein Jahr vergangen. In wenigen Monaten schreibt die heute 12. Klasse des Gymnasiums, die aus rund hundert Schülerinnen und Schülern besteht, ihre Abiturprüfungen. Seit einem Jahr diskutiert das Land, wie umzugehen sei mit den Schulen: auf oder zu? Infektionsschutz oder Recht auf Bildung? Was ist mit der Schulpflicht? Sonderregeln für die Abschlussklassen? Erst waren die Schulen zu lange auf, jetzt sind sie zu lange zu.

Schule ohne Schüler: das Alte Gymnasium in Bremen © Magdalena Stengel für ZEIT ONLINE

Bremen ist das Bundesland mit den wenigsten Schülern: 67.233 zählte das Land im vergangenen Schuljahr. Gleichzeitig ist es das Bundesland, das am schlechtesten im Pisa-Vergleich abschneidet. Für die Schülerinnen und Schüler entscheidet hier Claudia Bogedan, Bremer Bildungssenatorin seit 2015.

Manon: Wenn die Behörde wenigstens mit uns sprechen würde. Oder mit unseren Lehrern!

Melissa: Ich habe Angst, dass unser Abi nicht mit den anderen Jahrgängen vergleichbar sein wird. Als Bremer ist unser Abi "ja eh nichts wert" – und jetzt noch der Corona-Jahrgang zu sein, der wahrscheinlich weniger leisten muss in den Prüfungen: Da haben wir, glaube ich, die Arschkarte.

Luna: Im November waren meine Lehrer alle auf einmal in Quarantäne.

Luna © Magdalena Stengel für ZEIT ONLINE

Die Schülerinnen und Schüler sind mittendrin im Erwachsenwerden. Gerade begann für sie die Zeit, die sich anfühlt wie ein immer schneller werdendes Karussell. Wählen dürfen, nicht mehr für alles um Erlaubnis fragen müssen, auf Partys gehen, Pläne für ein ganzes Leben machen. Teenagerjahre voller erster und letzter Male. Bald werden sich manche voneinander verabschieden, bevor sie in andere Städte ziehen und neue Freunde finden. Es ist die Zeit der einzigartigen Momente: der letzte Schultag, die Zeugnisvergabe, der Abiball. 

Wie wird man erwachsen, wenn die Pandemie einen ins Kinderzimmer zwingt? ZEIT ONLINE begleitet 18 Schülerinnen und Schüler des Alten Gymnasiums durch die letzten Monate ihres Abiturs. Seit Januar erzählen sie in Zoom-Calls, Telefonaten und vielen, vielen Sprachnachrichten von sich und davon, was es heißt, während Corona jung zu sein.

Mirija: Das ist doch eigentlich die Zeit, in der wir herausfinden sollen, wer wir sind und was wir machen wollen. Aber das können wir absolut nicht. Wir hatten keine Praktika, wir können nicht auf Partys gehen und wir können uns nicht selber kennenlernen. 

Benthe: Sich immer nur auf WhatsApp zu schreiben, statt sich zu sehen, ist auch nicht normal.

Manon: Ich freue mich so darauf, mit der Schule fertig zu sein. Aber ich habe auch so Angst davor. Das richtige Leben, das klingt unsagbar gruselig.

Bastian: Ich mache keine Pläne, was nach dem Abi kommt. Bei dem Jahrgang davor hat das meiste auch nicht geklappt.

Anfang Januar sind in Deutschland noch Weihnachtsferien. In Bremen wurde der 200. Todesfall gemeldet, die Inzidenz ist die geringste der Republik. Am 5. Januar beschließen die Ministerpräsidenten, den Lockdown bis zum 31. Januar zu verlängern. Eigentlich hätte die Abschlussklasse am Montag wieder zur Schule gehen sollen.

Marlene: Die Beschlüsse von gestern haben alles über den Haufen geworfen. Wir werden am Sonntag alle auf Corona getestet, eigentlich, um dann am Montag in die Schule gehen zu können. Jetzt haben wir Onlineunterricht und werden trotzdem getestet.

Marlene © Magdalena Stengel für ZEIT ONLINE

Anneke: Ich fühle mich im Dauerstress. Corona ist allgegenwärtig, auch in meiner Familie. Mein Opa ist seit einem Monat daran erkrankt. Bei jedem Telefonklingeln habe ich Angst, dass es schlechte Nachrichten aus dem Krankenhaus gibt. Egal, wer anruft, egal, ich fürchte mich immer. 

Clara: Es fühlt sich für mich blöd an, zu wissen, die letzte Zeit mit meinen Schulfreunden nicht so zu verbringen, wie ich es gerne hätte. Ich würde gerne jedes Wochenende rausgehen, mich draußen hinsetzen und einfach Spaß haben.

Marlene: Nach dem Corona-Test stand ich noch lange mit Freundinnen draußen. Wir wollen jetzt Zoom-Konferenzen machen, damit wir uns wenigstens da sehen. 

Bremen war verhältnismäßig gut auf die Pandemie vorbereitet: Vor fünf Jahren bekamen alle Schulen einen Zugang zur Plattform itslearning, über die Unterricht digitalisiert werden kann. Im Herbst schaffte das Land 100.000 iPads an, für alle Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler. Am Montag, dem 11. Januar, hat die Abschlussklasse ihren ersten Schultag des Jahres. Online.

Mona: Ich habe heute Morgen die erste Videokonferenz des Jahres verschlafen. Ich wusste gar nicht, dass wir eine haben, weil ich nicht auf mein iPad geguckt habe. Wow, beginnt mein Jahr toll.

Thea: Heute steht eigentlich Onlineunterricht an. Aber itslearning funktioniert gerade nicht, sodass der Unterricht wahrscheinlich ausfällt. 

Luna: Ich konnte itslearning nicht mal öffnen.

Ich bin vor allem mit meinen Eltern und meiner Schwester zusammen. Mir fehlen die Gesichter von Menschen.

Melissa: Bei mir hat die Technik nur einmal gesponnen. Vor allem machen mehr Lehrer was. Es fühlt sich halt wirklich mehr nach Distanzunterricht an als vor den Ferien oder im April noch, wo alle Lehrer irgendwie meinten: Ja, warten wir die Situation mal ab. Ich habe das Gefühl, langsam gibt es einen Plan, wie man mit der Situation umgeht. Das macht mir irgendwie Hoffnung, dass das Abitur vernünftig verlaufen kann.

Marlene: Es war total ungewohnt, meinen Klassenlehrer ohne Maske zu sehen. Das hab ich seit einem Dreivierteljahr nicht. Ich weiß nicht, wie man mit Onlineunterricht aufs Abitur vorbereitet werden soll. 

Manon: Mein Freund hatte in den Ferien Corona. Es ging ihm zum Glück okay, seiner Mutter aber nur so mittel. An Weihnachten war er noch bei uns, ich habe mir richtig Sorgen gemacht, ob meine Familie krank wird. Ging aber alles gut.

Manon © Magdalena Stengel für ZEIT ONLINE

Beim Onlineunterricht bleibt es nicht. Anders als andere Bundesländer öffnet Bremen seine Schulen Mitte Januar wieder. Der Abiturjahrgang des Alten Gymnasiums wird in zwei Gruppen unterteilt: Die einen haben montags, mittwochs und freitags Unterricht, die anderen an den anderen zwei Tagen. In der Woche darauf wird gewechselt. Auf Kritik entgegnet die Bildungssenatorin Claudia Bogedan beim Regionalmagazin "buten un binnen": "Ich übernehme die Verantwortung gerne." 

Thea: Wieso haben wir wieder mit so vielen Menschen Kontakt, aber für den Rest gelten strenge Regeln? Ich finde, man setzt unsere Gesundheit ziemlich aufs Spiel und nicht nur unsere, auch die unserer Familien.