"Ich möchte ein Abbild von Dublin erschaffen, so vollständig, dass, wenn die Stadt eines Tages plötzlich vom Erdboden verschwände, sie aus meinem Buch heraus wieder aufgebaut werden könnte." So erklärte der irische Schriftsteller James Joyce, die Absicht, mit der er Ulysses geschrieben hatte, sein mit Abstand bekanntestes Werk. Rund 1.000 Seiten lang ist ihm die Nachbauanleitung seiner Heimatstadt schließlich geraten, dabei schildert er lediglich die Ereignisse eines einzigen Tages im Leben des Annoncenmaklers Leopold Bloom, den 16. Juni 1904. Dieser sogenannte Bloomsday wird seit 1954 zu Ehren von Joyce Werk alljährlich in Dublin gefeiert. In diesem Jahr ist die Partylaune in der irischen Hauptstadt besonders groß. Nachdem pandemiebedingt zuletzt nur ein Zoomsday mit vielen virtuellen Veranstaltungen stattfinden konnte, kehrt das Event nun auf Dublins Straßen zurück. Gerade rechtzeitig, um das 100. Jubiläum der Erstveröffentlichung von Ulysses mit Lesungen, Schauspielaufführungen und Vorträgen zu begehen.

Auf den Spuren der Romanfiguren führen literarische Stadttouren zu den realen Schauplätzen des fiktiven Geschehens. Zum Beispiel zum James Joyce Tower in Sandycove, auf den Glasnevin-Friedhof, in die Nationalbibliothek oder den Davy Byrnes Pub, wo Joyce-Fans auf ein Gorgonzola-Sandwich und ein Glas Burgunder einkehren, ganz so wie Leopold Bloom es im achten Kapitel von Ulysses tat. "Mr. Bloom verzehrte seine Sandwich-Streifen, das frische saubere Brot, mit einem wohligen Anflug von Ekel: der beißende scharfe Senf, der fußige Geruch von grünem Käse. Nippschlückchen Wein streichelten seinen Gaumen."

In den Boden eingelassene Bronzeplaketten markieren weitere wichtige Orte auf der literarischen Pilgerroute durch Dublin. Natürlich hat sich Irlands Hauptstadt seit Joyce-Zeiten gründlich verändert: Barney Kiernan's Pub, die Nelsonsäule, das Rotlichtviertel Monto und das Ormond-Hotel – alles längst verschwunden. Ein Ulysses-Schauplatz hält sich jedoch hartnäckig in einer unscheinbaren Ecke des Stadtzentrums, Sweny's Pharmacy. Das Haus am Lincoln Place 1 stammt aus dem Jahr 1847. Die unteren Räume dienten zunächst als Sprechzimmer einer Hausarztpraxis und wurden 1853 in eine Apotheke umgewandelt, die unter F. W. Sweny & Co. firmierte. Im fünften Kapitel möchte Leopold Bloom dort ein Rezept für seine Frau einlösen. "Das Schönheitswasser, lieber gleich fertigmachen lassen. Wo ist das doch? Ah ja, wie letztes Mal. Sweny am Lincoln Place. Drogisten ziehn selten um. […] Er wartete vor dem Tresen, den scharfen Ruch der Drogen einatmend, den staubig trockenen Duft von Schwämmen und Luffas. Unglaublich viel Zeit eigentlich, die man so damit zubringt, seine Wehwehchen zu erzählen."

Bloom lässt sich ausführlich vom Apotheker beraten und kauft überdies noch ein Stück Zitronenseife. Die gibt es dort heute noch. Sweny's wohlriechende Waschstücke sind inzwischen zu einem beliebten Dublin-Souvenir geworden. Am Bloomsday geht dort sogar Seife im Wert von mehreren Tausend Euro über die Theke. Einnahmen, die neben großzügigen Spenden dabei helfen, die Existenz des Ladens zu sichern. "Rund 2.400 Euro Monatsmiete müssen wir dazu aufbringen", erzählt P.J. Murphy, der jedem Besucher eine Tasse Tee anbietet, noch bevor sich die Ladentür hinter ihnen geschlossen hat. Der Mann im porenreinen Laborkittel, mit Fliege und schlohweißem Haar ist einer der vielen ehrenamtlichen Apothekenhelfer, die mit ihrem Einsatz dazu beitragen, dass Sweny's seine Türen nicht noch einmal schließen muss.

P.J. Murphy gehört zu den Freiwilligen, die im Sweny's ein Stück Dubliner Kulturgeschichte bewahren. © bildbaendiger

Nachdem die letzten Besitzerinnen den Betrieb 2009 einstellten und es eine Zeit lang so aussah, als ob ein weiteres Allerweltscafé folgen würde, übernahm P.J. zusammen mit einigen Mitstreitern das Geschäft, um ein einzigartiges Stück irischer Kulturgeschichte zu bewahren. So wurde aus der alten Apotheke eine Mischung aus Buchladen, Kulturzentrum und Joyce-Museum, ein Ort der Begegnung, der nicht nur ein vergeistigtes Studienratspublikum findet, sondern auch literarische Laien in eine längst vergangene Version von Dublin lotst.