Donnerstag, der 28. April 2022, war ein warmer Frühlingstag. Ich befand mich in Rzeszów im Osten Polens, ein Linienflug sollte mich zurück nach Deutschland bringen. Aber der Start verzögerte sich. "Meine Damen und Herren, wir können derzeit nicht starten", sagte der Pilot, nachdem schon alle Passagiere ihre Sicherheitsgurte angelegt hatten. Im Luftraum über uns, erklärte er, würden gerade Nato-Kampfflugzeuge betankt, die hätten Vorrang. Ich schaute nach draußen, wo gerade zwei Militärmaschinen starteten, eine davon mit Schwarz-Rot-Gold am Leitwerk. Am Rande der Startbahn: Abschussrampen mit Patriot-Raketen, die in den sonnigen Frühlingshimmel zeigten, wahrscheinlich nach Osten.  

Von dort kam auch ich, aus dem ukrainischen Lwiw, wo ich als Reporter unterwegs war, um über ein Land zu berichten, das seit Kurzem im Krieg war. Mehr als 140 Kilometer von der Grenze entfernt, hatte ich begonnen, all das hinter mir zu lassen. Eigentlich. Denn als der Kapitän seine Durchsage machte, als ich die Jets sah, die Raketen, die Flugzeuge der Bundeswehr, da wurde mir klar, dass das so einfach nicht werden würde. Die Bedrohung endet eben nicht an der Grenze. Es geht auch direkt um uns, um die Europäische Union. Es ist tatsächlich eine Zeitenwende, auch für mich. In diesem Moment auf dem Rollfeld von Rzeszów, begriff ich, dass all dies mich noch viel stärker betraf, als ich mir bisher hatte eingestehen wollen.    

Und ich fasste den Entschluss, dass es an der Zeit ist, eine alte Entscheidung zu revidieren. Ich würde meinen Wehrdienst leisten. Als Erstes musste ich dafür in den Keller meiner Münchner Wohnung hinuntersteigen.  

Mir ist vollkommen klar, dass Europa ein Kontinent mit unendlich vielen schmerzhaften Bruchlinien ist. Mein Großonkel Anton liegt in Flandern, auf dem Soldatenfriedhof Vladslo. Überschaut werden die Grabplatten vom "Trauernden Elternpaar" der Käthe Kollwitz. Vater und Mutter, nebeneinander kniend, in Stein gemeißelt. Als Kind winkte ich von Bayern über den "Eisernen Vorhang" hinweg in den Ostblock hinüber und meine mich zu erinnern, dass die drüben zurückwinkten, was aber unwahrscheinlich ist, weil sie ja dann von der Staatssicherheit der DDR oder Tschechoslowakei Probleme bekommen hätten.  

Vernunft und Herz allein gewinnen selten

Meine erste Freundin, die kluge, schöne und furchtbar eigensinnige Aida, war als Schülerin aus Sarajevo geflüchtet, aus dieser Stadt, die so lange im brutalen Feuer von Scharfschützen und Granatwerfern lag. Journalist wurde ich auch deshalb, weil ich als junger Schülerzeitungsmensch mit Rezzo Schlauch – damals selbstbewusster Co-Fraktionschef der Grünen – bei einer Parteitagspressekonferenz über den Kosovo-Einsatz diskutierte. Und als Student schien mir plausibel, was Politikwissenschaftler und Weltenkenner Gottfried-Karl Kindermann in seiner Vorlesung von der Balance of Power erzählte. Dieses Konzept, dass nur ein Gleichgewicht der Kräfte dauerhaft Frieden schafft, weil Vernunft und Herz allein eher selten gewinnen.   

Und dennoch schien mir eine persönliche Bedrohung immer fern, abstrakt, irgendwie: von gestern. Bei der Musterung im Kreiswehrersatzamt – so hießen die Bundeswehr-"Karrierecenter" damals Ende der 90er-Jahre noch – sagte ich dem Offizier, dass ich etwas Sinnvolles machen wolle, wenn ich schon Lebenszeit für die Gesellschaft geben müsse. Der lebenskluge Uniform-Mensch erwiderte: Entweder Bundeswehr, aber mit freiwilliger Verlängerung, für mindestens zwei Jahre, dann könnte ich an Stabilisierungseinsätzen teilnehmen, sehr sinnvoll. Von Russland war damals nicht die Rede, nicht mehr, noch nicht wieder. "Oder Sie machen eben Zivildienst."   

Ich überlegte noch kurz, ob ich mich für die Gebirgsjäger melden sollte, aber zwei Jahre in Uniform, das war mir dann doch zu viel des Guten. Der saudämliche Name des Amtes, die filmreife Hose-runter!-Gesundheitsuntersuchung und eine Grundskepsis gegenüber Befehl und Gehorsam taten ihr Übriges. Ich wurde also Hilfslehrer an einer Montessori-Schule, versuchte lernschwachen Kindern Rechnen und Erdkunde und Fußball beizubringen. Ich war nicht immer erfolgreich, aber im Gesamten war es keine sinnlose Sache und dazu auch manchmal schön und witzig.  

So oder so ähnlich sahen das viele Zivildienstleistende, die zum Wohle der Gesellschaft in ihrer individuellen Freiheit beschnitten wurden. Realschüler und Gymnasiasten, Kiffer und Streber, Murat und Max, Großstädter und Landmenschen. Bei der Bundeswehr sei das ähnlich, erzählten mir jene Freunde, die nicht verweigert hatten, wobei: Einer musste in den Bunker, weil er sein kleines Trüppchen zum Lied der Schlümpfe marschieren ließ. Ärgerlich – aber eine gute Anekdote. Nur die Drückeberger verpassten das alles, jene, die sich wegen angeblichen Asthmas oder einer leichten Zerrung hinten links ausmustern ließen. Und natürlich die, die regulär ausgemustert wurden.  

Und heute? Frage ich mich, wieso es in Deutschland und Europa eigentlich gar keinen verpflichtenden Dienst mehr gibt für junge Menschen (der natürlich für Männer und Frauen gleichermaßen gelten müsste). Die Gesellschaft hat eigentlich genügend Projekte, denen Helfer fehlen. Und das gilt eben auch für die Sicherheit.  

Meine Entscheidung wäre eine andere

Mein Land und mein Europa sind nun nach drei Jahrzehnten relativer Ruhe wieder in Gefahr. Von innen wie von außen, und in beidem spielt das derzeitige Russland eine Rolle, das Regime um Wladimir Putin. Säße ich im Jahr 2024 vor dem Musterungsoffizier, würde ich wohl wieder die Sinnfrage stellen. Aber vielleicht wäre seine Antwort eine andere und meine Entscheidung ebenfalls.   

Ich halte die Aussetzung von Wehrpflicht und Zivildienst im Jahr 2011 von heute aus betrachtet für falsch, so wie Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, der sagt: "Es war ein Fehler, sie abzuschaffen." Weil wir – man kann es einfach nicht ignorieren – leider wieder bereit sein müssen, uns zu verteidigen. Weil gemeinsames Tun Menschen zusammenbringt, die sonst nur übereinander sprechen, also die Gesellschaft zusammenbindet, die sonst gerade auseinanderdriftet. Weil ein verpflichtender Dienst aller für alle – explizit mit einer großen Flecktarn-Komponente – deutlich macht, dass Frieden nicht der Normalzustand ist, sondern errungen werden muss.   

Insofern kommt es mir fahrlässig vor, die Wiedereinführung einer Dienstpflicht – wahlweise zivil oder militärisch, idealerweise europäisch – rundheraus abzulehnen, und seien es nur die allerersten sanften Ausläufer, die Pistorius jetzt angekündigt hat. Der Verteidigungsminister will junge Männer verpflichten, über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Dienst Auskunft zu geben. Wer nach dem Ausfüllen des Fragebogens zu einer Musterung geladen wird, hätte die Pflicht hinzugehen.  

Gegenargumente werden viele vorgetragen: Manche meinen, Verteidigungsarbeit heutzutage sei ein Job für hauptberufliche Profis. Das stimmt schon, aber gerade die aktuellen Kriege zeigen, dass auch Reservisten relevant bleiben. Weil schlicht Personal benötigt wird. "Ein Krieg wird von Berufssoldaten begonnen, aber von Reservisten beendet", so drückt es Militärhistoriker Sönke Neitzel aus. Auch, weil Reservisten ihre zivilen Fähigkeiten beim Militär einsetzen können. Wie die ITler, die nach dem 7. Oktober in die israelische Armee berufen wurden. Wie die Teamleiter aus Kiew, die auch im Militär Führungsaufgaben übernehmen.  

Bei der Bundeswehr verhält es sich mit gut ausgebildeten Reservisten ähnlich, hört man. Zumal auch für eher schlichte Aufgaben daheim Leute fehlen: 6.000 Reservisten sollen, so der Plan der Bundeswehr, im Fall der Fälle die wesentliche Infrastruktur Deutschlands vor Sabotage und Angriffen schützen, Brücken, Kasernen, Pipelines, Flughäfen. Das scheint eine eher konservative Schätzung, in Zeiten des Kalten Krieges hieß es noch, es brauche dafür 70.000. Aber es gibt gerade noch nicht einmal die 6.000. 

Kostenneutral würde es nicht gehen

Der Bundesfinanzminister fürchtet, dass mit einer generellen Dienstpflicht der Wirtschaft noch mehr junge Fachkräfte fehlen würden und der Verteidigungshaushalt noch mehr aus den Fugen gerate. Klar, "kostenneutral" würde es sie nicht geben. Aber es geht ja nicht darum, alle 700.000 Menschen eines Jahrgangs in die Bundeswehr zu bringen, was wohl tatsächlich einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten würde.   

Ich muss gestehen, dass mir Befehl und Gehorsam weiterhin als arg antiaufklärerisches Arbeitskonzept erscheinen. Aber dass man mit einer Dienstpflicht Gewalt und Unsicherheit in die Gesellschaft trage, wie auch manche behaupten? Indem man sich bereit macht, um sich gegen eine Bedrohung von außen überhaupt wehren zu können?   

Wladimir Putin hat nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Seine Leute erzählen im Fernsehen auch davon, dass Marseille oder Lyon gute Ziele für einen Angriff seien, dass die zusammengebombten Dörfer in der Ukraine auch deutsche sein könnten. Russische Hacker und "Journalisten" verunsichern unsere Gesellschaft gezielt. Im Jahr 2016 verbreiteten sie etwa fälschlich, dass die Berliner Schülerin Lisa von Migranten entführt worden sei. Auch russlandfreundliche Spitzenpolitiker der AfD beziehungsweise deren Mitarbeiter dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Auch Geld aus Russland soll geflossen sein. Gerade ließ Putin Grenzbojen im Fluss Narva entfernen, an der Grenze zu Estland. Vor einigen Monaten wurde nahe einer der Kerosin-Pipelines, die die Nato betreibt, ein Sprengsatz gefunden. Von wem der verbuddelt wurde, ist unklar. Ebenso, wer die Drohnen steuerte, die Bundeswehr-Rechenzentren ausspähten. Klar ist hingegen: Ein russisches Schiff schipperte letzthin 300 Tage lang durch die Ostsee – immer genau dort, wo sich am Meeresgrund Strom- und Gasleitungen befinden, die nach Deutschland führen. Die Partnerstaaten Russlands heißen: China und Iran. Darauf sollten wir reagieren.  

In einem sogenannten gemeinsamen "Tagesbefehl" von Bundeswehr und Bundesverteidigungsministerium vom 14. Juli 2022 heißt es, sehr zutreffend: "Niemand weiß, wie weit der russische Präsident seinen Großmachtwahn noch treiben wird." Deshalb müsse das deutsche Militär künftig "kaltstartfähig" sein. Eine Ableitung daraus, auch das steht in diesem Dokument: "Die Reserve ist für die Landes- und Bündnisverteidigung unverzichtbar und für die Einsatzbereitschaft der gesamten Bundeswehr von zentraler Bedeutung." Doch die Realität sieht leider anders aus.   

Es fehlt an Material, an Munition und an Leuten. Und auch wenn ich nur einen klitzekleinen Beitrag dafür leisten kann, dass sich das bessert, möchte ich das gern tun. Erfreulicherweise bin ich nicht allein: Im Jahr 2023 erklärten 57 Prozent der deutschen Männer bei einer Bevölkerungsbefragung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, das Land im Falle eines Angriffs auf jeden Fall oder zumindest wahrscheinlich mit der Waffe verteidigen zu wollen. Und eine Mehrheit der Deutschen befürwortet auch die Wiedereinführung einer Wehrpflicht im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht.   

Sporttest, dann vier Wochen Ausbildung

Einige Wochen, nachdem ich nahe der Außengrenze von EU und NATO auf die tankenden Jets gewartet hatte, stieg ich also in München in den Keller und kramte meine verblichene Kriegsdienstverweigerung aus einer Kiste – um sie zu widerrufen.   

Was ich anstrebe, ist eine Spätberufenenausbildung zum Soldaten, so ähnlich wie bei katholischen Pfarrern. Das bedeutet: Sporttest, dann vier Wochen Ausbildung, nicht zwingend am Stück, sondern in Modulen, da ist die Bundeswehr schon up to date. Am Ende dieser Mini-Grundausbildung bin ich dann Soldat der Reserve, sofern ich das G36, das Standardgewehr der Bundeswehr, ordentlich bedienen kann, sofern ich halbwegs kompetent "im Felde" zu überleben vermag, was auch immer das heißt, und natürlich muss ich die Gravitas von Schulterklappen einschätzen können.   

Ganz einfach wird das alles nicht. Wer vom Zivilisten zum Soldaten werden will, die ASSA durchlaufen will, die sogenannte "Allgemeine Streitkräftegemeinsame Soldatische Ausbildung", der braucht viel mehr als seinen Personalausweis. Es braucht: ein Bewerbungsschreiben, samt der ausgefüllten Anlage 1, das Beorderungs-Einverständnisformular, einen tabellarischen Lebenslauf, das Abschlusszeugnis jeweils von Schule, Ausbildung und Studium, die Kopie der Geburtsurkunde, und, falls vorhanden, der Heiratsurkunde. Wahrscheinlich sollte man auch den Seepferdchen-Aufnäher mitschicken.   

Den richtigen Adressaten – es ist übrigens nicht das Bundesverteidigungsministerium – und all das habe ich mir mühsam zusammenklauben müssen, etwa auf www.ungedient.de. Die Website hat ein junger Reservist aus Baden-Württemberg ehrenamtlich für den 72-Milliarden-Euro-Apparat aufgebaut. Dort ist übrigens zu lesen, dass in diesem Jahr wohl 700 ungediente Bürger die Nachschulung durchlaufen würden. Anderen Interessenten, die es gäbe, sei der Prozess zu kompliziert, außerdem fehle es an Material und freien Truppenübungsplätzen.  

Dieser Tage hatte ich wieder Kontakt zu dem Übersetzer, mit dem ich in der Ukraine gearbeitet hatte. Ostap, mit dem ich damals im April auch meinen Geburtstag feierte, bei Pizza und Bier. Ich sehe ihn und seine Frau und seinen Sohn ab und zu auf Instagram. Sie wohnen nur eineinhalb Flugstunden entfernt. Er sei eingezogen worden zum Militär, schrieb er mir, habe einen Vier-Wochen-Schnellkurs absolviert und tue nun Dienst im Osten der Ukraine. Russland greift noch immer an.