Neulich saß ich auf einem Frisierstuhl und bekam zu meinem Haarschnitt eine Lebenskrise. Den Körper eingewickelt in einen schwarzen Umhang, den Hals in einer papiernen Halskrause, starrte ich in den Spiegel: Was mache ich eigentlich aus meinem Leben? Bei wem hatte ich mich viel zu lange nicht gemeldet? Habe ich mir eigentlich heute Morgen die Ohren geputzt? Ekelt sich der Friseur vielleicht vor mir? Und vor allem, wie unförmig sind meine Ohren eigentlich? Nach einigen Minuten war ich sicher: Ich habe wahrscheinlich die seltsamsten Ohren der Welt, angeklebt an einen eingedrückten Eierkopf. Unterbrochen wurde meine Gedanken nur von diesem Geräusch: Raaatz. Raaatz. Raatz.

Dabei ist es so: Im Alltag mag ich meine Kopfform eigentlich. Genau wie meine Ohren und mein Leben. Aber jedes Mal, wenn ich mir beim Friseur selbst in die Augen starre, verzwergt sich mein Selbstwertgefühl.

Ich glaube, das liegt auch daran, dass sich Friseure seit einiger Zeit eine Art Schweigegelübde auferlegt haben. Früher unterhielten wir uns über das Wetter, Fußball, sogar über private Probleme. Ich war seltsam offen gegenüber einem Fremden und manchmal hatte der Friseur sogar einen guten Rat. Neuerdings hält er bloß noch die Haare zwischen den Fingern und schlägt auf diese Art vor, wie viel er abschneiden will. Aus Gesprächen ist Zeichensprache geworden und man wird für eine halbe Stunde zur kompletten Passivität verdonnert. 


Wann hat das eigentlich angefangen: dass wir uns nichts mehr zu sagen haben? Und warum entmutigt und befremdet einen der Dauerblick in den Spiegel so?

Aus der Literatur weiß man, dass extreme Selbstbespiegelung meistens böse aussieht und böse endet. Die antike Sagengestalt Narziss verliebte sich in sein Spiegelbild, das er in einem See sah. Er ertrank, weil es ihm nicht gelingen wollte, seinen Doppelgänger zu küssen. Weil ihr Spieglein-Spieglein feststellt, dass ein gewisses Schneewittchen wesentlich hübscher sei als sie, begibt sich eine böse Hexe auf Rachefeldzug. Und die Autorin Annette von Droste-Hülshoff dichtete über den eigenen Anblick im Spiegel: "Mit Zügen, worin wunderlich zwei Seelen wie Spione sich umschleichen / Ja, dann flüstre ich: Phantom, du bist nicht meinesgleichen."

Selbst die moderne Wissenschaft hat sich mit diesem Phänomen der Entfremdung vom Spiegelbild auseinandergesetzt. Der Psychologe Giovanni Caputo etwa. Er bat Probanden 2010 in einem Experiment, sich zehn Minuten lang selbst in die Augen zu sehen. Die Resultate waren erschreckend: Zwei Drittel der Probanden berichteten anschließend von "Deformationen" des eigenen Spiegelgesichts, einige wollten darin Merkmale von Katzen, Schweinen oder Löwen ausgemacht haben. Jeder Zehnte erkannte sogar tote Verwandte.

Die Ursache dafür liegt in der selektiven Wahrnehmung unseres Gehirns. Wenn man sich über mehrere Minuten in die Augen schaut, beginnt das Gehirn irgendwann damit, das Restgesicht auszublenden. In manchen Fällen vermischt sich dann der Außenrand des Gesichts mit dem Raum, der einen umgibt, weshalb wir unser Gesicht für deformiert halten. Genauso ist es, wenn man sich auf seine Ohren konzentriert oder die Kopfform, bei der dann das komplette Gesicht vom Gehirn ignoriert wird.

Nun helfen Ausflüge in die Literatur und die Wissenschaft, um zu verstehen, warum uns unser Spiegelbild irritiert. Die Frage nach dem Schweigegelübde des Friseurs bleibt.