Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 33/2023 und stammt aus unserem Ressort X. Alle Texte und Schwerpunkte des Ressorts finden Sie hier.

Einen längeren Interviewtermin mit Brian Bloom zu bekommen, ist schwierig. Nicht länger als 30 Minuten, heißt es erst, alle Kameras bitte aus, auch die der drei PR-Leute im Zoom-Call. Ein wenig wirkt es so, als würde man die CIA treffen. Bloom, 53 Jahre alt, ist der Autor eines der erfolgreichsten Videospiele der Welt: "Call of Duty". Offiziell ist er Narrative Director bei Activision, dem Herausgeber der Spiele-Reihe. 100 Millionen Menschen spielen die Serie jeden Monat, die meisten in den USA, aber auch in China, England, Brasilien, Deutschland.

"Call of Duty" handelt vom Krieg. Der Spieler wird zum Kämpfer, er schlüpft in die Rolle eines Soldaten und navigiert sich mit dem Controller durch animierte Welten. Aus seiner Perspektive sieht er Flughäfen, brennende Städte, zerbombte Siedlungen, vor sich immer den Lauf einer Waffe. Das neuste Spiel der Serie, "Modern Warfare II", spielte am ersten Wochenende rund 800 Millionen Dollar ein, mehr als Blockbuster wie "Top Gun" oder "Doctor Strange". Gleichzeitig steht "Call of Duty" immer wieder in der Kritik: Es verharmlose den Krieg, mache Gewalt zum Vergnügen. Ende April und Ende Juli schaltet Brian Bloom sich dann doch mit Videokamera dazu. Er wirkt entspannt, in Baseballcap und Holzfällerhemd. Er sagt, er liebe es, über dieses Thema zu reden: die Grenzen von Realität und Fiktion.

ZEIT ONLINE: Mister Bloom, Sie sind Narrative Director der Call-of-Duty-Serie. Was bedeutet das eigentlich?

Brian Bloom: Man kann es sich vorstellen wie das Dirigieren eines Geschichtenorchesters. Ich gestalte die Gesamterzählung unserer Spiele, die Charaktere und ihre Besetzung, die Welten, die sie bewohnen. Dafür arbeite ich mit allen Disziplinen zusammen. Wir überlegen uns: Wie schafft man ein immersives Erlebnis, in das man eintauchen kann? Wie schreibe ich ein Drehbuch, in dem der Spieler Teil der Geschichte wird und die Handlung selbst vorantreibt? Wie setze ich das technisch um?

ZEIT ONLINE: Ihr letztes Spiel, Modern Warfare II, setzt in der Gegenwart ein, man kämpft gegen Terroristen, iranische Generäle und Kartelle, die mit Russland verbündet sind. Es gibt Missionen in Amsterdam, in Galizien, in mexikanischen Slums. Wie viel Realität steckt in diesem Spiel?

Bloom: Wir achten auf Authentizität, aber wir vermischen sie mit Fiktion und Unterhaltung. Wir haben ein unglaubliches Netzwerk an Beratern und Experten. Sie helfen uns, authentisch zu sein und respektvoll gegenüber fremden Kulturen. Wir wollen aber auch sicherstellen, dass wir Raum für dichterische Freiheit lassen.

ZEIT ONLINE: Zu diesen Experten zählen die CIA oder ehemalige Soldaten der amerikanischen Armee.

Bloom: Wir arbeiten viel mit den United States Army Rangers zusammen, einer Infanterieeinheit des Militärs. Und mit pensionierten Navy Seals aus dem Seal Team Six von der Marine.

ZEIT ONLINE: Was lernen Sie von diesen Soldaten?

Bloom: Zum Beispiel, wie sie sich bewegen. Wir haben die Jungs vom Seal Team Six auf unsere Motion-Capture-Bühne eingeladen und durften sie filmen: wie sie sich auf engstem Raum bewegen, leise, unauffällig, wie sie Treppen hochsteigen, durch Gänge streifen, Räume sichern, wie sie prüfen, wo Kämpfer sind und wo Unbewaffnete, wie sie reagieren, wenn jemand zur Waffe greift. Ihre Bewegungen sind so geschmeidig. Die Art, wie sie Waffen montieren und halten, ist so authentisch. Sie kennen den Unterschied zwischen Positionen wie Low Ready oder High Ready: Entweder man hält den Lauf des Gewehrs genau 30 Grad nach unten oder genau 30 Grad nach oben gerichtet (Bloom macht es vor der Kamera selbst vor). Ihre Bewegungen haben wir dann auf unsere Figuren übertragen.

Auch die Pistolen, Gewehre und Messer bei "Call of Duty" sind echten Waffen nachempfunden – von Marken wie etwa Heckler und Koch. "Call of Duty" soll realistisch sein. Als befände sich der Spieler tatsächlich im Krieg. Ganze Panzer werden dafür eingescannt, Patronenfeuer aufgenommen, Straßenzüge vermessen und nachgebaut: Grachten aus Amsterdam, U-Bahn-Schächte aus London, verglaste Hochhäuser aus Chicago.

ZEIT ONLINE: Worüber sprechen Sie noch mit den Soldaten?

Bloom: Wir befragen sie viel zu ihrer Mentalität, ihrer Ideologie, aber zum Beispiel auch zu ihrem Vokabular. Sie nutzen sogenannte Brevity Codes, Abkürzungen wie "roger", "copy" oder "check". Die klingen natürlich supercool in so einer Militärfantasie wie Call of Duty. Aber auch hier achten wir darauf, dass es für die Spieler nicht zu viel wird. 

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Bloom: "On my way" versteht man. Aber "Two mics out"? Weiß jeder, was mit "mic" gemeint ist? Müssen die Spieler es wissen? Ruiniert es die Geschichte, wenn sie es nicht tun?

Low Ready heißt diese Position: Das Gewehr in Bereitschaft, sichern US-Soldaten 2009 in Bagdad eine Grundschule ab (oben). Für "Call of Duty" spielen pensionierte Soldaten solche Einsätze nach. Ihre Bewegungen werden getrackt und auf die Spielfiguren übertragen (unten). Diese Szene spielt in einem Luxushotel in Amsterdam, das es wirklich gibt. © Wathiq Khuzaie/​Getty Images
© Call of Duty/​Activision

ZEIT ONLINE: Was heißt es denn?

Bloom: Zwei Minuten. Das kann man sich vielleicht erschließen. Manchmal helfen wir aber auch und lassen eine andere Figur etwas antworten wie: "Ich brauche dich hier schneller als in zwei Minuten, John." Und plötzlich hat der Spieler eine Chance, die Sprache zu entschlüsseln.

Fast alle Geschichten der "Call of Duty"-Reihe wurzeln in der Wirklichkeit: Das erste Spiel, erschienen 2003, beginnt während des Zweiten Weltkriegs. Der Spieler läuft durch die Ruinen von Stalingrad und hisst am Ende die sowjetische Flagge über dem Reichstag. Seitdem sind 18 weitere Spiele entstanden, fast im Jahrestakt, auch sie handeln vom Zweiten Weltkrieg, vom Kalten Krieg, vom Krieg im Nahen und Mittleren Osten, von zukünftigen Handelskriegen oder Weltallgefechten.

ZEIT ONLINE: Sie haben gesagt, sie vermischen Realität mit Fiktion. Meinen Sie damit zum Beispiel auch eine Figur wie Farah Karim, die in mehreren ihrer Spiele auftaucht? Sie ist Anführerin einer Rebellengruppe aus dem fiktiven Land Urzikstan und kämpft gegen das russische Militär. Als Vorlage dafür dienten die Kämpferinnen der kurdischen Miliz YPJ. Sie haben vor allem gegen den IS in Syrien gekämpft.

Bloom: Ja. Ein weiteres Beispiel ist unser Charakter Alejandro. Seine Figur ist fiktiv, wir haben ihn als Anführer der mexikanischen Eliteeinheit Los Vaqueros erschaffen, auch die ist erfunden. Seit ich hier arbeite, versuche ich, nicht nur britische oder amerikanische Helden zu zeigen. Wir haben Büros auf der ganzen Welt, einschließlich Mexiko-Stadt, aber zum Beispiel kaum starke mexikanische Helden. Dabei haben lokale Armeen ja ein persönliches Interesse, die Konflikte in ihrer Ecke der Welt selbst zu lösen.